Von Onkel Rosebud
Meine Freundin hört gerne auch mal nichts. Dabei ist das weniger einfach, als es vielleicht vermuten lässt, das Nichts zu hören. Drängen doch ständig irgendwelche Geräusche, erhört zu werden, zu ihr vor. Ob Nachbars Hausmusik, der Sanierungspresslufthammer im Hinterhaus oder eingängiges Gedudel im Kaufhaus, immer sind unsere Ohren diversen Anschlägen oder Ansagen wie „Nächste Station Albertplatz“ ausgesetzt.
Und um die Erfahrung des Nichts-Hörens zu machen, müssen wir oft weite Wegstrecken überwinden, was nicht ohne zahlreiche Entbehrungen einhergeht. Oder, wer hört schon bewusst? Bewusst Musik hören zum Beispiel gehört zu Tugenden unserer schnelllebigen Zeit, wie Ehrlichkeit oder guter Geschmack. Tja, nichts ist leichter, als mal eben nebenbei das Radio laufen zu lassen, hört man aber bewusst hin, wird einem schlecht, spätestens, wenn zum dritten Male der gleiche Werbeblock gelaufen ist.
Es melden sich doch jetzt mal alle, die sich ab und an einen Tonträger auflegen, vorzugsweise nicht klassisch, und sonst nichts anderes machen, als selbigem zuzuhören. Genau, wusst‘ ich’s doch, Musik ist verkommen zum Nebenbeiprodukt. Bloßes Betätigen eines Sinnesorgans ist anstrengend und ein ständiges Gedudel sind wir gewöhnt. Manche brauchen es sogar, um sich auf eigentliche Hauptaufgaben zu konzentrieren. In Diskothek-Tanzveranstaltungen geht es eh nur darum, dass es ordentliche wummert und der Wiedererkennungswert erhalten bleibt – von bewussten Musikgenuss keine Spur.
Ich suggeriere folgendes Experiment: Man verdunkelt das etwa 19°C warme Zimmer, in dem gehört werden soll, rücke einen möglichst harten und unbequemen Holzstuhl in den Zenit der Akustik (der Punkt im Raum, wo sich die Boxen treffen, würden sie einen Strich aussetzen), verhänge alle Bilder mit hautfarbenen Tüchern und tue sowieso alles, um eventuelle Ablenkung auszuschließen. Sodann streiche man sanft über die Sammlung der zu Verfügung stehenden Tonträger, spiele einen besonderen bei mittlerer Lautstärke ab und setzte sich dazu auf oben erwähnten Stuhl, mit Gesicht zum Abspielgerät gewendet. Der Erfolg, vor allem bei Darbietungen in einer Sprache, die man versteht, ist verblüffend. Für Einsteiger dieser zugegeben schwierigen, aber höheren Kunst des Bewusst-Hörens empfiehlt meine Freundin Max Goldts (Foyer des Arts) Sprechplatte „Restaurants, Restaurants“ oder für anglophon-gepolte Mitmenschen His Bobness Dylan. Vor allem bei Letzterem kann man vor Ehrfurcht nur so auf dem Holzstuhl herumrutschen.
Onkel Rosebud
P.S.: Dieser Text erschien erstmals am 10. Januar 1996 in ad-rem, Jahrgang 8, Nummer 2.