Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: If You Tolerate This Your Children Will Be Next

Von Onkel Rosebud

Der Song steht im Guinness-Buch der Rekorde als Nummer-Eins-Single mit dem längsten Titel ohne Klammern. Das wußte meine Freundin nicht, aber dafür hat sie ja mich. Der Name des Liedes stammt von einem republikanischen Propagandaplakat aus dem Spanischen Bürgerkrieg der 1930 Jahre, das in englischer Sprache verfasst war und das Foto eines von den Nationalisten getöteten Kindes vor einem Himmel voller Bomber zeigte, mit der titelgebenden Warnung am unteren Rand. Erstmals vorgetragen wurde der sehr dufte Song von der walisischen Formation Manic Street Preachers im August 1998. Damals schon ohne Richey Edwards, dem Gitarristen, denn er verschwand 1995 über Nacht. Bis heute ist unklar, was tatsächlich mit dem Musiker geschah. Sein Verschwinden bleibt eine der bewegendsten, mysteriösesten und ungelösten Episoden in der jüngeren Geschichte der Popmusik. Über den vermissten Rockstar wurden jede Menge Bücher geschrieben. Meine Sekundärliteratur für diesen Text ist das empfehlenswerte Buch „Withdrawn Traces: Searching For The Truth About Richey Manic“ von Sara Hawys Roberts.

Zuerst wunderten sich seine Bandkollegen nicht, dass Richey abgetaucht war. Der 27-Jährige hatte immer wieder depressive Episoden, erst einige Monate vorher hatte er einen Suizidversuch unternommen. Und die Stimmung in der Band war schlecht. Bei ihrem letzten Konzert in London einige Wochen vorher hatten die Manic Street Preachersihre Ausrüstung zertrümmert, Edwards hatte sich seine Gitarre auf den Kopf geschlagen.

Als er auch nach mehreren Tagen verschwunden blieb, schaltete seine Familie die Polizei ein. In dem Hotelzimmer in London, wo er die letzte Nacht vor dem Flug verbracht hatte, fand man seinen gepackten Koffer, seine Medikamente gegen Depression und eine Schachtel mit Büchern, die er als Geschenk für seine Ex-Freundin verpackt hatte, dazu ein Zettel mit den Worten „I LoveYou“ – aber keinen Abschiedsbrief oder irgendeinen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort. Nichts deutete auf ein Verbrechen hin.

Auch in Edwards’ Wohnung in Cardiff entdeckte die Polizei nichts, das weiterhalf. Fest stand nur: Nachdem Edwards das Hotel in London verlassen hatte, musste er noch einmal dort gewesen sein, denn in seinem Apartment lag neben seinen Bankkarten und seinem Reisepass auch ein Mautticket für die Severn Bridge, die England und Wales verbindet. Demzufolge war er am 2. Februar um 2:55 Uhr nachts über die Brücke gefahren.

Zwei Wochen später gab es eine neue Spur: Auf einem Parkplatz in der Nähe der Severn Bridge wurde Edwards Auto gefunden, ein silberner Vauxhall Cavalier. Hatte sich Edwards etwa von der Brücke gestürzt, einem berüchtigten Ort für Suizide? Doch eine Leiche wurde nicht gefunden.

Dafür meldete sich ein Fan, der ihn am 5. Februar in der walisischen Stadt Newport in einem Bus gesehen haben wollte. Und ein Taxifahrer aus dem gleichen Ort hatte am 7. Februar einen Mann, dessen Beschreibung auf Edwards passte, durch Südwales und dann zur Severn Bridge gefahren. Aber auch diese Hinweise führten nicht weiter, im Mai 1995 stellte die Polizei die Suche ein.

Hat der zutiefst traurige Richey Edwards Suizid begangen, wie viele vermuten? Gehört er also zum sogenannten „Club 27“, wie die Rockstars Amy Winehouse, Brian Jones, Jim Morrison und – na klar – Kurt Cobain, die alle im Alter von 27 Jahren starben?

Oder ist Richey Edwards gar nicht tot? Hat er sein Verschwinden nur inszeniert, um einem Leben zu entfliehen, das ihm zu viel wurde, als einen letzten, radikalen Akt der Selbstbestimmung? Lebte er vielleicht unter einem anderen Namen in einem Kloster, wie die Autorin im Buch vermutet? Edwards war ein Fan von J.D. Salinger, dem Autor von „Der Fänger im Roggen“, der sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Und er war fasziniert von Menschen, die plötzlich verschwanden. Hob er deshalb in den zwei Wochen, bevor er selbst verschwand, täglich 200 britische Pfund von seinem Konto ab?

Edwards’ Familie ließ ihn schließlich im November 2008 für tot erklären. Trotzdem glaubt seine Schwester Rachel bis heute nicht, dass er sich das Leben genommen hat. Sie wirft der Polizei vor, dass sie sich schon früh darauf festgelegt hat, dass er von der Brücke gesprungen sei, und dass sie schlampig gearbeitet habe. So werteten die Ermittler die Aufnahmen der Überwachungskameras auf der Severn Bridge erst zwei Jahre später aus – und erst auf Druck der Angehörigen. Ohne Ergebnis.

Wo seid ihr, findige Investigativ- und True-Crime-Journalisten, wenn man euch mal braucht?

Fragt,

Onkel Manic Rosebud