Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Avicii wecke mich auf

Von Onkel Rosebud

Alter Schwede, das Video „Wake Me Up“ von Avicii hat 3,5 Milliarden Aufrufe auf ytb. Nur einer davon ist von mir, meldete meine Freundin neulich am Frühstückstisch. Sie nötigte mir ab, noch einen Klick hinzuzufügen, obwohl ich den Song nicht mag, trotzdem er mich berührt. Weil er so offensichtlich zusammengeschraubt klingt und die Inkarnation des Algorithmus verkörpert mit dem so Scheißfirmen wie sptfy arbeiten. Innerhalb von 5 Sekunden muss die Aufmerksamkeit der Hörerschaft gewonnen sein. Mir reicht das nicht, aber bei „Wake Me Up“ mache ich eine Ausnahme.

Das Video habe ich aber nicht verstanden. Irritierenderweise hat es mit dem Songtext nichts zu tun: Zwei Mädchen, augenscheinlich Schwestern, leiden in ihrem kleinen Dorf darunter, anders zu sein und sich anders zu fühlen als die übrigen Dorftrottel, die sie oft abweisend ansehen. Beide tragen ein besonderes Tattoo am Arm: ein Symbol mit zwei Dreiecken, die nach außen weisen, mit einer kleinen Lücke dazwischen. Beim Ausgehen verstecken sie es unter ihrer Kleidung.

Eines Tages, als die jüngere Schwester noch schläft, reitet das ältere Mädchen auf einem Pferd in eine größere Stadt. Sie bindet das Pferd an einen Mast, dann begegnet sie dem ersten Menschen in der Stadt. Im Gegensatz zu ihr selbst zeigt die junge Frau ihre Schulter unverhüllt. Das Mädchen dreht sich um, folgt der Frau und entdeckt dasselbe Tattoo an ihr. Kurz darauf wird sie von einer offenherzigen Gruppe willkommen geheißen, sie fahren zu einer Party, sie tanzen, viele zeigen ihr Tattoo offen. Sie kehrt zu ihrer Schwester zurück und fordert sie auf, sofort zu packen. Diesmal gehen sie den langen Weg zu Fuß, bis sie schließlich gemeinsam die Stadt erreichen, wo sie willkommen geheißen werden und wieder tanzen.

Daraufhin behandelte mich meine Freundin wie einen Analphabeten und erklärte, dass der Künstler damit sagen will, er setze sich für die ein, die anders sind und von der Drecksgesellschaft nicht akzeptiert werden, also Homosexuelle, Andersdenkende und so weiter. Meinem Hinweis, dass 3,5 Milliarden Andersdenkende keine Randgruppe darstellen, ignorierte sie. Und über das Pferd wollte sie auch nicht mit mir reden.

Aber, betrachtet man heute Aviciis Ultra-Music-Festival-Set von 2013, wo der DJ und Kräuterschnapsexperte „Wake Me Up“ zum ersten Mal spielte, ist es im Rückblick ein einzigartiges Erlebnis, den späteren Erfolg der Musik zu erkennen. Die teilweise unangenehme Stille des Publikums verdeutlicht das Risiko und den Mut von Tim Bergling, alias Avicii, diesen neuen Sound bei einer so großen Veranstaltung vorzustellen. Obwohl der beliebte Refrain, gesungen von Aloe Blacc, zusammen mit dem volkstümlichen Akustikgitarrenschlag des Incubus-Mitglieds Mike Einziger heute weltweit verehrt wird, war dieser Sound und Stil vor über zehn Jahren für die Tanzgemeinde neu, vermutlich, weil sie nicht gewöhnt gewesen sind, mit purem Pop die Kluft zwischen Countrymusik und elektronischer Musik zu überbrücken.

Dem jungen Schweden jedenfalls tat der Erfolg mit dem Lied nicht gut. Achtundzwanzigjährig brachte er sich um. Avicii machte nicht nur andersdenkende Menschen mit seiner Musik glücklich, er konnte dieses Glück auf der Jagd nach neuen Songs oft selbst viel zu wenig spüren. Deshalb jetzt noch mal alle:

So wake me up when it’s all over
When I’m wiser and I’m older
All this time I was finding myself
And I didn’t know I was lost

Darauf einen Jägermeister!

Onkel Rosebud.