Von Guido Dörheide (23.05.2023)
VNV Nation gibt es schon ewig, dennoch habe ich mich erst mit „Electric Sun“ mit ihnen beschäftigt. Bis dahin kannte ich immer nur Remixes, die Ronan Harris von anderen Elektro-Tracks gemacht hat und bei denen irgendwann immer so ein Kirmes-Synthie-Stakkato einsetzte, das mich und den Herrn Van Bauseneick immer köstlich amisürte. Irgendwann haben wir uns einen Spaß draus gemacht, VNV-Nation-Remixes zu hören, auf den Synthie-Einsatz zu warten und gemeinsam loszulachen, während wir wild lautmalend zu zwei Synthies mutierten. Waren wir albern?
Wir nicht, VNV Nation hingegen schon! Überhaupt, was ist das für ein Bandname? Warum/Wofür beneiden wir die Nation? Nein, „VNV“ steht für „Victory Not Vengeance“, OK, das ist gut, weil Rache ist zwar Blutwurst (lecker!), macht aber auch blind und wird außerdem ausschließlich kalt serviert, wie Gazpacho, dem ich ebenfalls nichts abgewinnen kann.
Von Vorkenntnissen ungetrübt gehe ich also bei und gebe dem neuen Werk des in Hamburg ansässigen ehemaligen Einwohner Londons und Torontos, eines gebürtigen Iren, eine Chance und suche nach dem Synthie-Einsatz.
Und bin zuallererst mal überrascht, wie gut mir Harris‘ Stimme gefällt. „Electric Sun“ beginnt mit dem Titelstück, das ebenfalls „Electric Sun“ heißt, wie das Album, und ein ruhiges Stück ist. Es beginnt mit einer irgendwie fragend klingenden Synthesizermelodie und dem melodischen, irgendwie klagend klingenden Gesang Harris‘, dessen Stimme gleich versucht, mich in ihren Bann zu ziehen, wobei sie sich nicht schlecht schlägt. Nach kurzer Zeit kommt ein schönes tiefes Bassgeplucker hinzu, dann setzt ein programmiertes Schlagzeug ein und hier und da werden synthetische Streicher eingestreut. Alles klingt melancholisch und wunderschön, mit dieser Melodie und der Hingabe seines Vortrages hat Harris mich schon mal ein paar Dezimeter weit um den Wurstfinger gewickelt. Und mit knapp sieben Minuten ist das Stück auch kein bisschen zu kurz geraten, diese Zeit, sich in meiner Küche auszubreiten, benötigt es und sei ihm auch von Herzen vergönnt. Der Text ist dystopisch und düster (Hm, geht eigentlich auch dystopisch und ausgelassen?), wie es sich für düstere Elektromusik gehört.
Es folgt „Before The Rain“, das mehr Schmackes entfaltet, auch melancholisch klingt, aber mit mehr Poppigkeit im Vortrag. Fürwahr, Mr. Harris hat ein Händchen für Melodien, die Hammer, Amboss und Steigbügel schmeicheln, und greift musikalisch tief in die Kiste elektronischer Wohlklänge, aber auch wohldosiert, wie ich meine. Das Ganze wirkt auf mich nicht überfrachtet, jeder Klang sitzt da, wo er hingehört, und dazu sondert Ronan H. Melodien ab, die einerseits total vertraut klingen, aber auch nicht nach einem Abklatsch von irgendwas schon zigmal Gehörtem.
„The Game“ wartet mit einem eintönigen Midtempo-Beat auf, besticht wieder einmal mehr durch den Gesang und enthält darüber hinaus im Hintergrund ein synthetisches Klavier, das Abwechslung in den Song bringt. Mit „Invictus“ bleiben wir im Midtempo verhaftet, es wird jedoch wieder dunkler, was mir gut gefällt. Hier höre ich zum ersten Mal den von mir aus den oben erwähnten Remixes vertrauten Synthie-Klang heraus, aber langsamer vorgetragen als dort und deshalb gleich für angenehm befunden. Mehr Abwechslung erwarte ich von einem gotischen Wavealbum nicht und bin bereits hier sehr zufrieden. Auf „Artifice“ erhöht Harris, der das Album übrigens im Alleingang eingespielt hat, Tempo und Härte geringfügig, ändert aber nichts an den von den vorherigen Songs gewohnten Zutaten. Und das muss er auch nicht, denn alles funktioniert prächtig und macht beim Hören Spaß. Zu „Artifice“ würde ich auch bereitwillig eine Tanzfläche betreten, diese immer zwei Schritte in jede erdenkliche Richtung nacheinander ausführend durchmessen und den Boden nach allerley Preziosen absuchen, anstatt meinen Blick auf mein Gegenüber zu konzentrieren. Was nichts mit ignoranter Ablehnung zu tun hätte, sondern einfach das Einssein mit der Musik und ein gewisses Wohlfühlgefühl zum Ausdruck brächte.
„In The Temple“ verbrät die Hälfte seiner Spielzeit mit durchaus hörenswerten Fingerübungen auf der Klaviatur der elektronischen Klangerzeugungsvorrichtung und nachdem ich vierdreiviertel Minuten auf den Gesang gewartet hatte, stellte ich fest, dass es sich um ein Instrumentalstück handelt. Schade, da mir Harris‘ Gesang inzwischen so richtig an Herz gewachsen ist. Deshalb kriege ich den auch auf „Prophet“ wieder zu hören. Schnelles Tempo, und hier dann auch die von mir oben noch als Kirmes-Techno geschmähten Synths, die hier aber prima hinpassen und während des Refrains ein wahres Pandämonium hinzaubern, aber nicht irgendwie plakativ nervend, sondern immer schöön zur Atmosphäre des Albums passend; einfach Augen schließen, zwei Schritte vor und zwei zurück und die ungewohnt hohen Töne genießen. Diese liefern sich gegen Ende des Stücks eine nette Schlacht mit der Schlagzeugmaschine und werden vom Gesang im Zaum gehalten. Wirklich schön passend beginnt „Wait“ dann sehr ruhig, nimmt dann nach dem ersten Viertel seiner Spielzeit auch Fahrt auf und auch hier tönen wieder die leicht schrillen und abgehackten Synths. Irgendwie ist es Harris gelungen, die Hörenden im Laufe des Albums darauf einzustimmen und sie Glauben zu machen, jetzt apselut nichts Anderes hören zu wollen. Mit ungefähr siemenhalb Minuten gibt Harris dem Stück Zeit, sich zu entfalten und uns Hörenden die Zeit nicht nur zu vertreiben (nein, die Zeit war auch nach Ende des Stückes noch da!), sondern überaus unterhaltsam sein zu lassen. „At Horizon‘s End“ dient dann wieder dem Durchschnaufen, es transportiert vorwiegend Dramatik und Harris‘ Stimme, und das macht es gut. Und der Drumcomputer erhält endlich mal eine wohlverdiente Ruhepause und kann die Nackenmuskulatur entspannen und eine kühle Dose von Mom’s Old Fashioned Robot Oil zu sich nehmen. Mit „Run“ folgt dann nochmal ein langes Stück, ungefähr sechseinhalb Minuten lang, Harris singt intensiv und beschwörend und die Musik klingt dramatisch. Härte durch Langsamkeit und Intensität anstatt durch schnelles Gebratze, sehr schön! „Sunflare“ haut vermeintlich auch in diese Kerbe, ist aber mehr vom harten, wenn auch nicht unbedingt schnellen Beat geprägt als der Vorgänger. Harris‘ Stimme klingt hier besonders schön und macht mich vorschlagen wollen, dass er mal zusammen mit Michael Stipe was aufnehmen sollte. Einfach nur so. Man muss schließlich auch mal was einfach nur so machen. „Sunflare“ geht fließend in dass letzte Stück des Albums, „Under Sky“, über, ein weiteres Instrumentalstück, dass das Album auf eine schön runde Weise beschließt.
Mein Fazit nach dem ersten intensiven Kontakt mit der Musik von VNV Nation: Wenn die Sonne mal wieder nicht scheint (so wie heute über weite Strecken des grauen Tages), taugt mir auch deren elektrische Variante auf das Vortrefflichste.