Von Matthias Bosenick (16.03.2022)
Zeitreise mit Heiko Ueberschaer aus Bremen: Sein erstes Album „Flow Of Time“ erfüllt alle Anforderungen an Prog-, Art-, Jazz- und sonstige verschachtelte Rockmusik, die man sich ausmalen kann. Einer konkreten Zeit lässt es sich nicht zuordnen, wenngleich der knackig produzierte Sound schon sehr jetzig ist, aber der Mix an musikalischen Ideen und Einschüben könnte nahezu jederzeit seit den Siebzigern entstanden sein. Im Kontext des Progrock ein geiles Album – das man außerhalb dieses Umfelds vermutlich eher nicht wahrnimmt, weil es sehr genrespezifisch daherkommt.
Der Mann fährt echt alles auf: Riffs, Soli, Chöre, Orgeln, Oboe, Klavier, Keyboardflächen, wilde Akkordritte, balladeske Passagen, opulente Dramen, Songs mit Überlänge, die nicht immer einem klaren Schema folgen, sondern unkalkulierbare Wendungen nehmen, die Stimmung ändern, das Tempo wechseln, die musikalische Grundausrichtung komplett umkrempeln, und sei es nur mal zwischendurch für wenige Sekunden. Dazu singt Herr Ueberschaer mit klarer, dunkler und sehr angenehm warmer Stimme. Man könnte schnell mit Begriffen wie „Kitsch“ und „Klischee“ auftrumpfen. Das trifft auch sicherlich zu, schließlich ist der Progrock nicht erst seit der Geburt des Punkrock mit dem Ruf behaftet, vollständig ausdiskutiert zu sein, aber dann betrachtet man dieses Album eben hermeneutisch.
Und da erfüllt es eben tatsächlich exakt, was man in dem Genre und von dem Genre erwartet. Ja, und auch bereits kennt, aber hier dann eben auf die Ueberschaer-Art durcheinandergerührt. „Flow Of Time“ bedient die Stammkundschaft bestens, weil die Qualität herausragend ist, sowohl kompositorisch als auch musikalisch. Da komponiert er radiotaugliche Balladen, streut dann auch mal einen Reggae-Offbeat ein, frickelt und gniedelt gediegen auf seinem Instrumentenpark herum, rockt amtlich, erzeugt atmosphärische Passagen, klöppelt den Siebzehn-Drölftel-Takt und singt dazu mit großer Geste. Allzu heavy sind Ueberschaers Riffs nicht, aber ganz verzichten mag er auf sie auch nicht. Seine Musik neigt dazu, zu gefallen, dem Ohr zu schmeicheln und den Geist herauszufordern. Und natürlich handelt es sich bei „Flow Of Time“ um ein Konzeptalbum, klar: eine Liebesgeschichte, tragisch selbstredend.
Für die Umsetzung seiner jüngsten musikalischen Ideen scharte Ueberschaer einen ansehnlichen Haufen versierter Leute um sich, die allesamt damit punkten, dass sie bereits Verpflichtungen bei Szene- und sonstigen Größen in ihrem Lebenslauf stehen haben: Keyboarder Adam Holzmann wirbt mit Einsätzen für Miles Davis und den omnipräsenten Szenepapst Steven Wilson, Bassist Lars Lehmann kontert mit UFO, Uli John Roth sowie weiteren Genrenamen und Schlagzeuger Kristof Hinz legt mit Chartserfahrungen nach, die er mit Till Brönner, Mousse T und Marla Glen sammelte. Ueberschaers Hauptmusikpartner sind Gitarrist und Mixer Axel Köhnken und Keyboarder Rainald Menges, mit denen er auch schon seit 2016 seine ersten drei EPs einspielte.
Das hat alles hohe Qualität, und doch wird man es sich außerhalb von Progrockleidenschaften vermutlich eher nicht anhören, gerade weil es so ausgeprägt den Progrock bedient. Wer davon nämlich ohnehin genervt ist, lässt sich auch von einem Hochkaräter wie Ueberschaer nicht überzeugen. Denn zwar ist „Flow Of Time“ einfallsreich, aber nicht abweichend genug – Ueberschaer experimentiert nicht, er überrascht nicht. Er erfüllt.