Von Matthias Bosenick (05.12.2022)
Von Duisburg über das Wendland (Lüchow-Dannenberg!) in die Welt hinaus, in der Folklore und Rockmusik eine heilige Ernte ergeben: Tom Liwa macht mit „Eine andere Zeit“ ein Album, auf dem er musikalisch Leuten wie Bob Dylan oder Neil Young Referenz erweist – inklusive Mundharmonika – und inhaltlich in seine eigene Seele abtaucht, wie immer eigentlich, und damit in die Seelen derer, die zuhören mögen. Und zuzuhören gibt es eine Menge: Das Album ist fast 80 Minuten lang und sprengt die physikalischen Kapazitäten der CD ebenso wie die mittlere Aufmerksamkeitsspanne vieler Musikhörenden. Und am Ende ist es immer glasklar ein Tom-Liwa-Album, auf dem der Mann – sobald er nicht singt – erzählt und dazu die Akustische anschlägt, begleitet von einer neu zusammengestellten vierköpfigen Band mit dem obskuren Namen Marion van der Beeks Seven Sisters.
Wer gestresst ist vom Alltag und sich nicht darauf einlassen kann, dass es anderen Leuten nicht so geht, wird über dieses Album hinwegstolpern und es entnervt skippen. Wer gestresst ist und Ruhe sucht, hingegen, wird hier Kontemplation finden. Ungestresste sowieso. Unermüdlich quasselt Liwa vor sich hin, bewegt die Stimmlage, gerät in sein typisches Leiern, dehnt, sobald er doch singt, die Silben ins Unendliche, dass es schmerzt, also wie immer, so geht Liwa. Dazu zeichnet die Akustikgitarre reduzierte Figuren, aufs Lebensdigste begleitet von Schlagzeug, Bass, Mundharmonika, auch mal Flöte wie bei den Siebziger-Hippies, zu denen Liwa ja auch gehört, und zwischendurch platziert er einige flottere Songs, mit ausgelassenem Drumming und fröhlichem Gesang, „Agnes“ ist so ein psychedelisches Stück, „Mannanaun“ beinahe Pop, „Virgin Birth Blues“ in der Tat Blues, den Tom Liwa bei Tom Waits abgeguckt haben mag. Hier lohnt sich also beides, den mal assoziativen, mal konkreten Texten zuzuhören wie sich in der Musik fallen zu lassen. Ebenfalls wie immer bei Liwa. Eine klassische Liedstruktur hält er dabei eher nicht so gern ein, darauf muss man sich einstellen.
Diese Band, die Liwa hier bei sich hat, Marion van der Beeks Seven Sisters, besteht aus vier Leuten, von denen niemand Marion van der Beek heißt: Markus Steinebach, auch bei Liwas Hauptband Flowerpornoes im Einsatz, spielt den Bass. Schlagzeuger Lars Plogschties entlieh Liwa bei Besser, er ist auch bei Liwa-Kollegen wie Bernd Begemann und Dirk Damtstaedter zu hören. Stef Malderer ist mit dem Instrument Automatic Orchestra aufgeführt. Und Gong-Saxophonist Didier Malherbe spielt hier Flöte und Duduk. Zudem gibt es Gäste: Gesang von Carolin Hennig, Maureen „Submaureen“ Middeldorf (wie Liwa aus Duisburg!; allerdings nicht mit dem Song „Meine Liebe wächst“ aus dem Jahr 2021, der ist hier nicht enthalten, sondern mit „Sally“, der auf einem Text der im vergangenen Jahr verstorbenen Feministin Sally Miller Gearhart basiert) und Katharina Kollmann (alias Nichtseattle (ohne Dirk) oder Lake Felix). Außerdem spielt Stefan „Saint“ Horlitz einmal Piano und Raphael Kestler ebenfalls einmal Gitarre.
Die Art der textlichen Darbietung kombiniert mit der an US-Folklore (Country und Western) und GB-Psychedelik (Flötenfolk) angelehnten Musik erinnert gelegentlich an die gesprochenen Passagen auf dem Debüt von Three Fish, natürlich sehr an Neil Young, Bob Dylan oder Johnny Cash, aber vorrangig selbstredend an Liwa selbst. Auch wenn er nicht immer eindeutig ist in seiner assoziativen Wortsammlung, auch wenn er tief in seine Seele blickt und blicken lässt, auch wenn er den Ernst des Lebens in über 60 Jahren auf diesem Planeten mehr als aus- und eindrücklich am eigenen Leibe zu spüren bekam, behält der Mann stets den Schalk im Nacken. Man fühlt sich von ihm überrumpelt, wenn in den zwei längsten Stücken plötzlich traditionelle Zeilen erklingen, „Von den blauen Bergen kommen wir“ in „Kekse für die Königin des Himmels“ und „Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“ in „Fast schon März auf dem Traumschiff Aida“, da unterbricht er seinen Flow kurz und rüttelt an der Aufmerksamkeit der Gefolgschaft.
Beide Stücke zusammen nehmen übrigens 20 Minuten des Albums ein, mit dem neunminütigen epischen „Hunter“ sind es sogar drei Songs in einer halben Stunde. Bleiben also immer noch 50 Minuten für elf weitere Lieder. Inhaltlich interessant ist, dass Liwa bisweilen Perspektiven einnimmt, die nicht einem vorgegebenen Geschlecht entsprechen; einige klingen nach weiblichen Positionen, einige nach einer Diversität, die andere einfordern und die er wie nebenbei aus dem Ärmel schüttelt, also im Gegensatz zum großen Rest der Gesellschaft längst tief verinnerlicht hat. „Verliebt in den Einhornjungen“ zu sein zu behaupten steht gewiss nicht jedem Mann, noch nicht. Liwa ja, man hat bei ihm keine Zweifel an Lauterkeit und Rechtmäßigkeit. Marion van der Beek könnte folglich er selbst sein.
Wer schnell bei Bandcamp bestellte und etwas mehr auszugeben bereit war, erhielt das Album mit einem zusätzlichen Büchlein, diversen Postkarten und einem vom Künstler selbst angefertigten Origami-Kranich.