Von Matthias Bosenick (15.11.2014)
Ein enorm vielschichtiger Film ist „The Zero Theorem“, das ist sehr angenehm. Man kommt aus dem Kino und hat eine Menge mit seinen Sitznachbarn zu besprechen. Hat man alle Einzelheiten und Ebenen erfasst, wie interpretieren andere das Gesehene? Erstaunlicherweise überfrachtet Gilliam den Film nicht, obwohl man anfangs mit der Bilderflut klarkommen muss. Optisch und inhaltlich nähert sich Gilliam seinem Meisterwerk „Brazil“ an, kopiert es aber nicht. Und Christoph Waltz darf zeigen, dass er als Schauspieler mehr als einen Typus drauf hat. Grandios.
Es ist nicht einfach, die Story mal eben zusammenzufassen. Sie spielt in einer nicht näher bestimmten Zukunft. Der psychisch desolate Qohen Leth (Christoph Waltz ohne Haare) arbeitet für die Firma „Mancom“ des gottähnlichen „Managements“ (Matt Damon) als Softwaresachbearbeiter. Doch da er auf einen Anruf wartet, der ihm den Sinn seines Lebens verraten soll, erwirkt er über seinen Abteilungsleiter Joby einen Heimarbeitsplatz. Der wird bewilligt, mit der Auflage, dass Qohen das „Zero Theorem“ lösen soll, eine Art Universalformel. Zu Hause bedeutet für Qohen in einer ehemaligen Kirche. Die Aufgabe wächst aber über Qohen hinaus. Unterstützung bekommt er daher von Bainsley (Mélanie Thierry), in die er sich zögerlich verliebt, und Bob, einem 15-jährigen Praktikanten. Wenn Qohen träumt, imaginiert er sich ein Schwarzes Loch; eine Online-Therapeutin (Tilda Swinton) soll ihm helfen, mit seinem Inneren klarzukommen.
Qohen ist soziophob, weiß nicht, wo er auf einer Party stehen soll, spricht fast mit niemandem, hat keine Freunde. Seine gesamte Hoffnung liegt in dem Anruf: Vor Jahren legte er im trunkenen Zustand versehentlich auf, als ihm jemand per Telefon etwas Wichtiges mitteilen wollte, von dem Qohen glaubt, dass es der Sinn seines Lebens sei. Seitdem wartet er, dass der Unbekannte erneut anruft – anstatt selbst am Sinn seines Lebens zu arbeiten. Da er für das Management eine unersetzbare Arbeitskraft darstellt, gewährt es ihm Unterstützung. Es dauert, bis Qohen begreift, dass die vermeintliche Zufallsbekanntschaft Bainsley, die er später im Cyberspace am romantischen Strand trifft, ein Callgirl, also gekauft, ist. Auch erfährt er erst spät, dass der 15-Jährige der Sohn des Managements ist. Aus deren ursprünglicher Hilfe entwickelt sich, dass Qohen mit für ihn völlig fremden Ideen konfrontiert sind, die im Sinne des Managements sogar kontraproduktiv wären: Bainsley verführt Qohen dazu, sein Leben aufzugeben und mit ihr zu verschwinden, und Bob wehrt sich gegen die Überwachung und die Rolle als Werkzeug für seinen eigenen Vater. Doch all diese Sinn-des-Lebens-Aspekte ignoriert Qohen auf der Suche nach seiner eigenen Lösung. Ein Grund dafür ist, dass Qohen irgendwann erkennen muss, dass alle Einflüsse, von Bainsley über Bob bis zu seiner Online-Therapeutin, direkte Manipulationsversuche des Managements sind.
„The Zero Theorem“ ist wie jeder gute Science-Fiction-Film eine Überzeichnung der Gegenwart, hier mit unpersönlicher, aber kreischend bunter Arbeitsplatzgestaltung, noch penetranterer Werbung, egofixierter Partyteilnahme als gleichgeschaltetes Individuum in der Gruppe, als selbstverständlich aufgefasster permanenter Überwachung, unterwürfiger Obrigkeitshörigkeit. Hier ersetzt das Geld die Religion; das Management übernimmt die Rolle Gottes – ausgerechnet dessen Sohn fungiert für Qohen als rebellischer potentieller Heilsbringer. In Qohens Kirche sitzt auf der Christusfigur am Kruzifix kein Kopf, sondern eine Kamera, die ihre Bilder ans Management sendet – Gott sieht alles.
Der Film liefert viele schöne Denkanstöße. Bis auf seinen Computerarbeitsplatz hat Qohen keine externe Einflüsse. Er ist nur Nahrung ohne erkennbaren Geschmack und meidet Menschen. Nach einer gescheiterten Ehe hat Bainsley zunächst auch Probleme, sich ihm zu nähern, aber letztlich doch ihre Mittel. Nicht einmal die aufreizende Pizzabotin entlockt ihm Aufmerksamkeit, während sie Bobs Bewusstsein geradezu lähmt. Umso zerbrochener ist Qohen, als sich die vermeintlichen Gefühle Bainsleys als gekauft herausstellen. Da wird er rigoros. Umso näher kommt er Bob, der ihn sogar dazu bringt, vom Pluralis Majestatis in die Erste Person Singular zu wechseln. Qohen fühlt sich für ihn verantwortlich, als Bob krank wird, und zieht damit die gewaltige Wut des Managements auf sich. Der sture Qohen findet seine Erlösung eben doch nur auf seine Art, integriert aber Aspekte, die er bei Bainsley und Bob lernte, in seine Methode, diesen Weg zu finden.
Außerdem ist „The Zero Theorem“ in vielen Punkten ein typisches Gilliam-Werk. Die Optik erinnert an „Brazil“ und „12 Monkeys“, dieser Mix aus Steampunk und SciFi. Gottlob kopiert er seine eigenen Filme nicht einfach, sondern fügt einen neuen hinzu. Auch integriert er einige typische Monty-Python-Elemente; manche Situationen und Figuren sind skurril und erinnern an die Arbeiten, die Gilliam in den 60ern und 70ern mit den Pythons kreierte. Nicht zuletzt der nackt von hinten gezeigte Waltz am Anfang, der eine direkte Reminiszenz an den Regisseur ist, der für den „Blackmail“-Sketch stets am einer Orgel sitzend seinen nackten Rücken präsentierte.
Der Film ist weniger anstrengend oder stressig, als er am Anfang erscheint; er trägt das angenehme Maß an Ruhe und Inhalt. Die Ideen und die Geschichte überzeugen; er enthält noch viel mehr, als in diesen Text passt. „The Zero Theorem“ unterscheidet sich sehr vom Vorgänger, „Das Kabinett des Doktor Parnassus“, und doch tragen beide eindeutig Gilliams Handschrift und präsentieren seine Phantasie. Ein erfreulich lohnenswerter Film.