Von Matthias Bosenick (12.11.2016) / Auch veröffentlicht auf Kult-Tour Der Stadtblog
Ah, das ist endlich mal wieder europäisches Kino ohne Weichspüler: Der Humor hier unterscheidet sich stark von der französischen Komödie und vom Hollywood-Strandard. „The Tiger Theory“ ist sarkastisch und lakonisch, schwarzböse mithin, und das so beiläufig, dass die Dialoge doppelt sitzen. Veterinärveteran Jan hat nach 40 Jahren Ehe die Schnauze voll von heiler, aber fremdbestimmter Welt und lässt sich angesichts kastrierter Kater und fehldiagnostizierter Gedächtsniskrankheiten bei Graupapageien erfolgreich dazu hinreißen, seiner Familie Alzheimer vorzugaukeln. Spannend sind hier die vielen Charakterentwicklungen, kollidierenden Lebenswelten und beratungsresistenten Stillstände sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Charaktere. Da rückt die nur wenig ausgefeilte Bildsprache in den Hintergrund: Der Film ist gut.
Auslöser für Jans Protest ist der Tod seines Schwiegervaters: Dessen letzten Willen ignorieren Witwe und Tochter. Diese Form der Gängelung erkennt Jan endlich auch bei sich selbst, weiß aber, dass seine Frau niemals einer Scheidung zustimmen würde. Sohn und Tochter leben ebenfalls in Ehen, beide in unterschiedlichen: Die Tochter mit einem Karrieremann, der Sohn mit einer Hippiefrau. Alle haben ihre Sorgen, die umso weiter aufbrechen, je weiter sich Jan mit wahn- und einfach nur witzigen Ideen aus dem handelsüblichen Leben entfernt, etwa damit, dass er als gespielter Alzheimerpatient Vieh stiehlt, aus der Klinik ausbricht oder seine Frau als Fremde begrüßt. Jan entwickelt den Freigeist, den sein Schwiegervater zugunsten einer verhassten Ehe unterdrückte. Und ebenso macht es sein Schwiegersohn, der sich aufstacheln lässt und seiner Frau einen Despotismus entlockt, der sich in Manipulation, übler Nachrede und anderem Machtverhalten äußert. Dem Hippiesohn hingegen ist aus biologischen Gründen der Nachwuchs verweigert; ausgerechnet dieses vermeintlich dysfunktionale Paar, bei dem jeder dem anderen Freiheit lässt, keiner den anderen kontrolliert, die Küche aus Freiheitsdrang auch mal unaufgeräumt bleibt, setzt mit unegozentrischen, gleichmütigen, reflektierten, warmherzigen Statements wichtige Pflöcke im Leben der anderen. Jeder reagiert anders darauf und so ist es spannend, ob und wie sich die Familienmitglieder entwickeln.
Das Ganze ist in herrlich geradlinig-respektlosen Dialogen erzählt: „Wenn Vater nicht eingeäschert, sondern auf dem Friedhof beerdigt wird, ist er näher an Mutter.“ – „Genau das hat er vermeiden wollen.“ Dieser Sarkasmus ist dabei nicht ironisch oder auf die Schenkel zum Klopfen abzielend, sondern treibt die Handlung ernsthaft voran und zeichnet die Charaktere nachvollziehbarer. Es macht großen Spaß, den Leuten bei der Entwicklung oder beim Stillstand zuzusehen. Das schließt auch Zirkelschlüsse, Umkehrten und Abwendungen ein.
In Zeiten des Jugendwahns ist es zudem angenehm, einen Film aus der Sicht von Leuten zu sehen, die einem in Sachen Selbstfindung ein paar Jahre voraus sind. Sicherlich wird nicht jeder Jans Beweggründe nachvollziehen können und sich eher auf die Seite seiner Frau schlagen, aber genau für die ist so ein Film gemacht, sie können etwas dazulernen und eine Alternative zu ihrem Beziehungsmodell betrachten. Dafür muss der Regisseur mit den bekannten Stereotypen in Beziehungen beginnen, damit sich die Betrachter besser orientieren können.
Auch wenn der Film nicht gerade mit cineastischer Zauberei auftrumpft, sind viele Bilder doch ganz schön geworden: Landschaftsaufnahmen, Begegnungen, Dialoge. Macht in Summe einen großen Spaß und einen herausragenden Film.