Von Matthias Bosenick (12.11.2023)
Die Welt ist Scheiße, und ein extrem negativer Faktor ist die Gemengelage aus Rassismus, Rechtsruck und Neofaschismus, die sich allerorts ungehemmt in die Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Die Welt könnte mit Humanismus und Solidarität ein so viel besserer Ort sein, findet auch der 87jährige Ken Loach, der zuverlässige Abbilder sozialer Themen aus linker Perspektive, und lässt ein vergessenes Kohledorf im Nordosten Englands auf die Ankunft syrischer Geflüchteter reagieren. Zentrale Personen sind der Pubwirt TJ und die Syrerin Yara, die eine Dorfgemeinschaft zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen erwirken wollen – und Loach flicht alles ein, was es an Negativität in diesem Kosmos zu berichten gibt. Und potentiell Positivem: „The Old Oak“ ist damit ein Märchen – leider.
Im Pub mit dem titelgebenden Namen sitzen die Dorfbewohner und echauffieren sich über die Situation im Land: Immobilienheuschrecken, Arbeitslosigkeit nach der Grubenschließung, Armut, Verwahrlosung, Krankheit, ausbleibende Hilfe vom Staat, und dann kommen noch Leute aus Syrien, Muslime mit Kopftüchern gar, um sich zu bereichern und den Engländern alles wegzunehmen, und wer weiß denn, ob da nicht sogar versteckte Islamisten mit bei sind. Noch schlimmer: Ihr Wirt TJ stellt sich auf deren Seite, freundet sich mit Yara an, organisiert mit Kumpelin Laura Spendenlieferdienste an die Häuser, in denen die syrischen Familien untergekommen sind, und stellt ihnen sogar den stillgelegten Saal seines Pubs zur Verfügung, was er seinen alten Kunden verweigerte, als sie darin eine fremdenfeindliche Sitzung abhalten wollten.
Eine unerträgliche Szenerie, der man sich hilflos ausgesetzt fühlt. Was Loach hier vermeidet, ist die zu befürchtende Gewalt; ein Junge wird von Mitschülern verprügelt, physischer entlädt sich hier kein Hass, aber dafür psychisch, und das nicht zu knapp. Was auch deshalb so schmerzhaft trifft, weil alle Beteiligten an der Seele getroffen sind: die Syrer, weil ihre Heimat zerbombt wird und das Schicksal zurückgelassener Familienmitglieder unklar ist, und die Einheimischen, weil sie den wirtschaftlichen Niedergang ihrer Region miterleben mussten. TJ verlor seinen Vater in der Grube und Frau und Sohn an seine Arbeit, lediglich sein Hund bleibt ihm, der ihn einst vor Suizid bewahrte. Belastet sind sie eben alle, auch die Engländer vor Ort („Ich bin auch Flüchtling, mein Vater kam aus Irland“), und das vergisst Loach bei seinem Plädoyer nicht. Deshalb kommen Laura, Yara und TJ ja auch auf die Idee, den Saal des Pubs wie weiland beim Großen Streik in den Achtzigern zweimal wöchentlich für gemeinsame Verpflegung zu nutzen, mit gespendeten Lebensmitteln und gemeinschaftlich ehrenamtlich zubereitet. Widerstand von den bekannten Rechtsdenkern gibt es trotzdem. Und eine Lösung, die die Brutalität des Kriegs mit etwas Märchenhaftem kombiniert. So schön könnte es sein, und man weiß: wird es nie, dafür sind Menschen seit schon immer viel zu Scheiße.
Loach kennt alle Argumente, die der Fremdenfeinde wie die der Besonnenen; er bringt gute Argumente für Solidarität und widerlegt die schlechten mit Taten. Er lässt TJ auf den Punkt das Schlüsselargument bringen, dass es im Land schon Scheiße war, bevor die Geflüchteten kamen, und dass es für sie eine einfache Lösung ist, die dafür verantwortlich zu machen, also nach unten zu treten und nicht nach oben. Er zeigt, dass sich Geschichte wiederholt, dass Streikbrecher bei den Bergarbeiterprotesten 1984 auch nicht verhindern konnten, dass die Gruben geschlossen wurden, dass eine Antihaltung also zu nichts führt, sondern dass auch damals schon die Solidarität die Gemeinschaft stärkte.
Wie immer findet Loach ausdrucksstarke Schauspieler für sein Personal. Man sieht es Loachs Stammdarsteller Dave Turner als TJ vom ersten Moment an an, dass er ein verlässlicher Zeitgenosse ist, während Newcomerin Ebla Mari, gebürtig aus den Golanhöhen, als aufmüpfige Yara zunächst ob ihrer beschädigten Kamera auf Konfrontation aus ist, was ihrem Stand im Ort nicht eben förderlich ist. Die Frauen im Frisörsalon, die Pubbesucher, die Jungs mit den Kampfhunden auf der Straße, jedes dritte Wort ist „fuckin’“, bei dem Slang und Dialekt ist man dankbar für die Untertitel, es ist fuckin’ authentisch, was man da zu sehen bekommt, und natürlich nicht frei von empathischem Humor. Zu sehen bekommt man zudem einen Film, der das Hauptaugenmerk auf die Geschehnisse und die Emotionen lenkt und nicht zwingend cineastisch arbeitet, aber dennoch nicht billig wirkt; Loach arbeitet die Spannungsfelder zwischen Nähe und Distanz handlungsdienlich ein. Auch überfrachtet er den Film nicht mit Score, sondern bleibt reduziert bei der Sache; musikalischer Höhepunkt ist die Diashow mit Yaras Fotografien im Pubsaal, die ein Syrer live auf der Oud begleitet.
Aufgrund der Erfahrungen, die man als Zuschauer mit dem machte, was man von Rechtsdenkern zu erwarten hat, geht man während des Filmguckens permanent davon aus, dass demnächst Blut fließen würde. Loach erspart uns das, gottlob, es ist schlimm genug, was er trotzdem abbildet. Das Ende ist anrührend ohne Ende und angesichts der Realität märchenhaft – leider: So wird es nie, nie werden auf dieser Welt. Umso länger bleibt dieser Film in Herz und Hirn haften. Wenn es stimmt, was Loach ankündigt, legt er nach „The Old Oak“ die Hände in den Schoß – einer wie er wird der Welt fehlen.