Von Matthias Bosenick (29.01.2016) / Auch erschienen auf Kult-Tour – Der Stadtblog
Filme von Quentin Tarantino kann man in (mindestens) zwei Universen betrachten: im allgemeinen Filmkosmos und in Tarantinos eigener Historie. Verglichen mit dem Rest der Welt, oder zumindest von Hollywood, macht Tarantino exorbitant gute Filme. Verglichen mit sich selbst erkennt man eine Weiterentwicklung innerhalb der acht Filme, für die er bislang Regie führte: Er wird erwachsener, behält aber viele seiner Merkmale bei. Filmisch ist er weniger experimentierwütig, dafür aber subtiler. Sein Humor äußert sich weniger visuell als nun überwiegend inhaltlich. Da das Cartoonhafte zurückweicht, wirken die blutigen Anteile jedoch brutaler. Ansonsten: Ein großartiger Film, der drei Stunden lang nicht eine Sekunde langweilt, obwohl er zumeist auf beengtem Raum stattfindet.
Wie immer bei Tarantino sind die Figuren gut ausgearbeitet und vielschichtig. Gut und Böse sind nicht auf Anhieb auszumachen und stecken ohnehin in jeder Person. Als Betrachter wechselt man seine Allianzen daher so oft, wie es die Figuren im Film selbst tun, weil sie sich gegenseitig und damit dem Zuschauer uneindeutig darstellen. Waffen und unvorhersehbare unterschwellige Gewalt sind wie in einem Kriegsfilm zwar simple Spannungselemente, aber Tarantino verfeinert sie mit Dialogen und bietet ihnen damit eine nur untergeordnete Grundlage. Das Schachspiel in der Mitte des Raumes steht nicht zufällig stellvertretend für die Geschichte.
Mit der führt einen Tarantino einmal mehr zunächst hinters Licht. Er zeigt in einem Western Kopfgeldjäger und einen vermutlichen Sheriff in spe, die in einer Kutsche eine Gesuchte bei sich führen und in einer Gastwirtschaft Unterschlupf vor einem Schneesturm suchen wollen. Diese Hütte ist bereits belegt von einem englischen Henker, einem Mexikaner, einem Cowboy und einem alten General. Manche kennen sich untereinander, oft nur vom Ruf, und so manche aufgebaute Identität besteht daher den Realitätscheck nicht. So kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg treten Rassenressentiments in den Vordergrund, da einer der Kopfgeldjäger schwarz ist und der alte General den Südstaatlern angehörte (überdies entlarvt Tarantino in diesem Film über die Art und Weise, wie die Charaktere hier Schwarze, Mexikaner und Frauen behandeln, den gegenwärtigen Zustand der USA). In der ersten Hälfte des Films, bis zur von Tarantino berechtigt gesetzten Pause, vollführen diese Personen (inklusive Kutscher sind es übrigens neun) einen munteren Reigen der Schlagabtausche – bis zum ersten Schuss. Nach der Pause wird es extrem blutig, aber aus anderen Gründen, als Tarantino es zunächst andeutete. Bluffs und Finten, Enttarnungen und Überreaktionen bestimmen die Szenerie.
Wie üblich ist auch dieser Film angenehm dialoglastig (und damit wahnsinnig witzig). Tarantino erzählt Geschichten in der Geschichte, zusätzlich zum laufenden Film bemüht er beim Betrachter das Kopfkino. Überall legt er dabei falsche Fährten aus, es ist nie klar, welche Geschichte stimmt. Besonders gelungen ist, als er der abwesenden Hüttenbesitzerin im Rückblick ein Gesicht gibt: Man hat sie sich nicht als dieser Ethnie angehörend vorgestellt. Châpeau!
Wie immer erzählt Tarantino auch „The Hateful Eight“ in Kapiteln, und wie immer ist eines davon chronologisch vor den anderen anzuordnen. Jenes eine wirft einige Geschichten mal eben um und gibt gewissen Andeutungen eine Basis. Zudem macht diese Vorgeschichte die ganzen schönen Allianzen obsolet. Fein gemacht.
Anders als sonst verwendet Tarantino dieses Mal weniger Nahaufnahmen und zeigt dafür deutlich längere Einstellungen. Interessanterweise macht dies einen Film in einer engen Hütte nicht langweilig oder beengend, sondern hilft, zur Dialogspannung beizutragen. Mit einigen Zwischenschnitten in die verschneite Gegend bricht er zudem die Enge der Hütte für den Betrachter auf. Auch arbeitet Tarantino dieses Mal noch mehr mit Licht als sonst, schon in der Kutsche etwa leuchtet der Brief von Abraham Lincoln wie der Kofferinhalt von Marcellus Wallace in „Pulp Fiction“, und auch in der Hütte sind überall dezidierte Spots gesetzt. Wie gewohnt arbeitet Tarantino auch hier wieder mit musikalischen Pointen: Als der Mexikaner am Piano „Stille Nacht“ als inhaltliches Gegenstück zur ganzen Geschichte spielt, erzählt der schwarze Kopfgeldjäger gerade dem General prahlerisch, wie er dessen Sohn getötet haben will. Den Zitate-Pop bringt Tarantino hier subtiler unter als sonst: Ein blutiger Western erinnert natürlich an Sam Peckinpah oder Sergio Leone, die knappe Whodunnit-Szenerie an „Zehn kleine Negerlein“ von Agatha Christie. Toll sind ebenfalls wie immer die Schauspieler: Samuel L. Jackson und Kurt Russell haben die ausgeprägtesten Figuren, Tim Roth übernimmt dieses Mal die distinguierte Rolle von Christoph Waltz. Und Jennifer Jason Leigh ist einfach mal eine herrlich abstoßende Verbrecherin.
Brutal ist „The Hateful Eight“ ebenfalls. Erst in der zweiten Hälfte, dort dann aber umso ausdrücklicher und schonungsloser, weil der Film weniger überzeichnet ist als etwa die Schießerei in „Django Unchained“. Jede Blutkotze und jedes weggeschossene Gehirn machen unangenehm Eindruck. Als Cameo taucht Tarantino dieses Mal nur im Original auf, da spricht er nämlich die Off-Texte in der zweiten Hälfte. Anders ist, dass Tarantino dieses Mal keinen coolen Soundtrack zusammenstellte, sondern diesen fast komplett eigens vom Maestro komponieren ließ, den er ansonsten mit einzelnen Stücken schon immer unterbrachte: Ennio Morricone persönlich. Als analogen Gag drehte er den Film auf einem uralten Material, das nur wenige Kinos heute noch abspielen können (diese Fassung ist sogar noch um 20 Minuten länger). Und in einer erheblichen Sache wich er von seiner bisherigen Linie ab: Sein achter Film „The Hateful Eight“ (auf Deutsch „The Hateful 8“) ist sein erster Film, der nicht genau zwei Wörter im Titel hat. Ist so: „Reservoir Dogs“, „Pulp Fiction“, „Jackie Brown“, „Kill Bill“, „Death Proof“, „Inglorious Basterds“, „Django Unchained“. Abgesehen davon, dass sich in der Hütte nicht genau acht Personen befinden, ist „The Hateful Eight“ auch eigentlich Tarantinos neunter Film, weil er „Kill Bill“ seinerzeit als zwei Filme in die Kinos brachte. Finten überall.
Faszinierend ist, dass dieser Film schon sehr gut wäre, hörte er schon nach der Hälfte auf. Dann wäre man aber um einige Überraschungen ärmer. „The Hateful Eight“ ist der – hm – achte gute Film von Quentin Tarantino in Folge. Das muss man mal schaffen.