Von Matthias Bosenick (20.12.2021)
Viele üppige Bilder und skurrile Situationen aus „The Hand Of God“ bleiben in nachhaltiger Erinnerung, und doch scheint der Stern von Regisseur Paolo Sorrentino im Sinken begriffen zu sein. Rund um das irreguläre Tor Diego Maradonas strickt er in dieser an seine eigene Biografie angelehnten Mär seine Legende vom im verarmten Neapel aufgewachsenen Teenager in einer bekloppten Familie, laut der „Die Hand Gottes“ höchstselbst ihn vom Tode bewahrte – anders als seine Eltern. Zwar ist man es von Sorrentino gewohnt, dass in seinen Filmen scheinbare oder tatsächliche Willkürlichkeiten ihren festen Platz haben, aber in diesem Film sind sie teilweise etwas unschlüssig aneinandergereiht. Und wenn das wirklich alles autobiografisch ist, weiß man am Ende zu viele Details über seine Sexualität, die man gar nicht wissen will. Einmal mehr gilt: Je älter der Mann, desto frivoler die Kunst.
Der Film steckt voller sehenswerter, bewegender, optisch eindrucksvoller und skurriler Momente: Der abgestürzte Kronleuchter in der leeren Wohnung, die Perspektive im Zugabteil, in der Filmdrehsequenz oder in der Wohnung der Baroness, die fellinieske Familienfeier auf dem Land mit den bekloppten Verwandten und den herabwürdigenden Dialogen, die rasende Autofahrt nachts in die Berge, das Meer immer wieder, das Geräusch des Rennboots bei 200 km/h, die bescheuerten Streiche der Mutter, der arrogante Regisseur, das absurde Casting für den Fellini-Film, immer wieder Bildaufbauten, Komposition, Perspektive, Farbzusammenstellung – und der Humor, der boshaft, bissig, herablassend ist. Man wünscht sich, den Film auf einer größeren Leinwand als dem heimischen Fernseher sehen zu können, aber es gab wohl einen Grund, warum Sorrentino ihn nicht ins Kino, sondern zu Netflix schleppte.
Vielleicht war er selbst nicht komplett überzeugt davon, wie er seine Lebensmeilensteine aneinanderreihte. Man muss sehr aufpassen, um jeder Finte und jedem Hakten folgen zu können; das war schon immer Teil von Sorrentinos Filmen, dass man nicht alles erfasste, was er zeigte, aber doch das Gefühl hatte, einfach nur einen Zusammenhang übersehen zu haben, womöglich aus dem Umstand heraus, nicht Teil der Kultur zu sein, der Sorrentino entspringt oder der er angehört, in Herkunft, Mythologie, Literatur, Kino oder Politik. Mit der brutalen Eröffnungssequenz etwa verstört und verwirrt Sorrentino eher, als dass er auf den Film neugierig macht, mit der Frau, die spärlich bekleidet auf einen Bus wartet, von einem alten Mann (dem Schutzheiligen Neapels, das muss man nachlesen) in eine leere Wohnung, die mit dem Kronleuchter, verschleppt wird, um von einem „kleinen Mönch“ gesagt zu bekommen, dass sie jetzt schwanger werden könne, und zu Hause verprügelt sie ihr Mann dafür, während sich der Neffe Fabietto, die Hauptfigur des Films, mithin das Alter Ego des Regisseurs, an ihrer entblößten Brust aufgeilt. Na, danke.
Nicht das einzige Mal, später sonnt sich jene offenbar psychisch kranke Tante an Deck eines Ausflugsboots, und die gesamte männliche Verwandtschaft gafft ungeniert. Filmisch lustig, inhaltlich fragwürdig. Und wenn Fabietto gegen Ende die Baroness „bürstet“, wie sie es nennt, greift das zwar auf einen Rat des Vaters zurück, der ihm erklärte, seine erste Frau solle nicht schön sein, sondern lediglich dafür da, das erste Mal hinter sich zu bringen, will man das jedoch nicht wissen und schon gar sehen, auch wenn die Szene in ihren Kulissen einmal mehr prachtvoll ausgestaltet ist. Man bekommt hier viel zu oft bestätigt, was man von anderen alternden männlichen Künstlern erfahren hat: Je länger her die eigene Jugend ist, desto – nun – frivoler werden die Kunstwerke. Freundlich ausgedrückt.
Zwar erzählt der Film eine Geschichte, aber ist die eher vermittels von Schlaglichtern aneinandergereiht, die man selbst – das immerhin mutet der Regisseur dem Zuschauer zu – in einen Zusammenhang bringen muss. Häufig entdeckt man jene Zusammenhänge selbst, bisweilen bleiben sie verborgen, und wenn man sich vor Augen hält, dass sie Sorrentino hier an der eigenen Biografie abarbeitet und man also davon ausgeht, dass sich die Dinge tatsächlich so oder ähnlich ereigneten, damals, Mitte der Achtziger im verarmten Neapel, dann nimmt man es auch in Kauf, wenn man einige Sequenzen einfach nur als gegeben hinnehmen muss, auch wenn sie rätselhaft bleiben. Der Schmuggler, mit dem sich Fabietto anfreundet und den er im Knast besucht, passt vom Wesen her gar nicht zu diesem stillen und zurückhaltenden Teenager, aber irgendwie muss dieses Mauerblümchen ja aus der Reserve ins Rampenlicht getreten sein, schließlich ist eine Folge davon eben dieser Film.
Echt, haben die Verwandten die unausstehliche Großtante verprügelt, als deren Sohn in den Knast kam? Lästerten die hässlichen Verwandten über den neuen Verlobten mit dem Kehlkopfsprachgerät, weil der in deren Augen hässlich war? Lief der Waffenhändler Kashoggi nachts einsam mit aufgetakelter Frau auf Capri herum? Hat sich die Schwester ständig im Klo eingeschlossen? Brüskierte der Regisseur Antonio Capuano die Theaterschauspielerin öffentlich? Lauter Puzzleteile, die den Humor unterstrichen und den Wahrheitsgehalt auf die Probe stellten. Und dann war da ja noch Maradona. Ab 1984 dank Mafiageldern beim SSC Neapel, 1986 mit der Selbstaussage bei der WM in Argentinien, sein erstes Tor gegen England wäre zum Teil durch seinen Kopf und zum Teil durch die Hand Gottes zustandegekommen, weltberühmt geworden, ein Schutzheiliger von Neapel – und von Sorrentino, der wegen eines Heimspiels nicht mit seinen Eltern den todbringenden Ausflug in die Berge unternahm. Und in der Folge daran zerbrach, aber Dank einiger Obskurer Begebenheiten – nicht zuletzt Besuche in der Psychiatrie bei seiner Tante, im Knast bei seinem Fußball- und Schmuggel-Freund sowie im Theater – dem Impuls erhielt, seine bisherigen Verpflichtungen zu überdenken; gegen Ende bekommt der Film eine ungeheure und wirkungsvolle Tiefe, eine Melancholie gar. Wie gesagt, das Ergebnis des Impulses liegt in einer üppigen Filmografie vor.
In der dieser eine eher untergeordnete Rolle spielt, zumindest filmisch, nicht biografisch. „La grande Bellezza“, „Il Divo“ und „This Must Be The Place“ sind die Kronen der Sorrentinoschen Schöpfung, seit „Youth“ nimmt die Qualität der Filme etwas ab. Auch wenn er in „The Hand Of God“ vieles richtig macht, etwa das Fußballverrückte gut einfängt oder die Achtziger nicht zum ironischen Selbstzweck einsetzt; der Film hätte abgesehen von Fabiettos Walkman und einigen Farben auch sonstwann spielen können. Es bleiben unzählige Situationen nachhaltig im Gedächtnis, und doch spielt der Film im Kanon des Regisseurs eine untergeordnete Rolle. Merkwürdig, aber zutreffend. Und: Ist der kleine Mönch, das Phantom seiner Tante, womöglich der uneheliche Halbbruder?