Von Matthias Bosenick (27.03.2024)
Hier treffen gleich zwei unschöne Ereignisse aufeinander: das Comeback und die Neueinspielung alter eigener Songs. Im Falle von The Cassandra Complex, ursprünglich aus Leeds, findet dies gottlob auf zwei verschiedene Alben verteilt statt: „The Plague“ ist das bereits vor zwei Jahren erschienene Comeback-Album, das jetzt zum 40. Bestehen der Wave-Electro-Rock-Band als remasterte „CX 40“-Version (dabei geht es um 40 Jahre Cassandra Complex, nicht um eine 40 Minuten lange Chromdioxid-Kassette) endlich auch auf Tonträger erscheint, und nur eine Woche davor haut eine um Rodney Orpheus neu formierte Band das 1993er Album „Sex & Death“ in stark gekürzter Form als „Death & Sex“ neu raus. Überraschung: Das Comeback-Album ist ein Hammer, die Neueinspielung immerhin eine nette Spielerei.
Schon damals, in den Achtzigern und Neunzigern, wusste man The Cassandra Complex nie in Schubladen zu stecken: zu gitarrenlastig für EBM, zu elektronisch für Wave oder sonstigen Rock. Oder auch: zu experimentell und monoton für Synthiepop, zu poppig für Avantgarde. Und bald sogar noch zu heavy für alles davon. Und alles davon gibt’s nun auf „The Plague“, außer heavy vielleicht, was dazu führt, dass das Album wie eine Art Best-Of mit neuen Songs wirkt – alles ist drauf, was man an The Cassandra Complex liebt. Die ihren Stil selbst übrigens als Cyber Post Punk bezeichnen, irgendein Etikett muss ja her.
Gottlob berücksichtigte Orpheus auch das bereits 2020 digital als Single veröffentlichte „The Crown Lies Heavy On The King“; der den Inhalt zusammenfassende „Destroy Donald Trump Mix“ verschwand indes irgendwann seitdem, was okay ist, weil es nun die bessere Version auf dem Album gibt. Auch der „Graceland Mix“ der zweiten Vorabsingle „Hotline To Elvis“ ist nur noch digital zu finden. Nicht schlimm, die Version, die das Album eröffnet, ist der größere Knaller: tanzbarer Beat, geloopte E-Gitarren-Melodie, rockige Riffs, pluckernde Synthies (wie immer pluckern sie), angehobenes Tempo, krachende Melodie und Orpheus‘ durchdringender, charakterstarker Tremolo-Gesang. Ebenso knallt an dritter Stelle das genannte „Crown Lies Heavy“, das Bratzgitarren auf eine wunderschöne Synthiemelodie legt und mit treibend wirbelndem Schlagzeug mächtig waverockt.
Ein schneller Synthierocker ist „Old Boys Network“, das so beinahe auch von den ihrerseits stilprägenden Epigonen The Fair Sex hätte sein können und in Sachen Tempo, Punkigkeit und Energie den Blick am weitesten zurück in die Anfangszeit von The Cassandra Complex richtet. In der Ballade „The Best Thing“ kommen Flanger-Gitarren zum Einsatz, die man so auch von The Cure kennt und die die klassische The-Cassandra-Complex-Elektronik begleiten. Auch die anderen Synthie-Sounds kennt man aus 40 Jahren CX, allerdings, und das ist das Bestaunenswerte, vorrangig aus der jüngeren Vergangenheit, also von „The War Against Sleep“ (1991) und „Wetware“ (2000), insbesondere die epischen Synthie-Balladen wie „I Miss You“ mit wunderschönen Melodien, die an die Komplementäre jener Alben anknüpfen. Da wird die Band atmosphärisch, und das liegt ihr: Diese merkwürdige Form von Reife, die in vielen Songs liegt, hatte Orpheus bereits vor über 20 Jahren – obwohl er 1993 mit „Sex & Death“ nochmal richtig die nagelbesetzte Keule rausholte. Dazu später mehr.
Erstaunlich ist, dass die Musik auf „The Plague“ – auch die elektronischen Anteile – so organisch klingt, denn eingespielt wurde sie quasi per Email. In der ersten Lockdown-Zeit begegneten sich Keyboarder, Drumcomputerprogrammierer und Sänger Orpheus, der in den zurückliegenden 20 Jahren erfolgreich als Musiksoftwareentwickler arbeitete, und Gründungsmitglied, Gitarrist und Keyboarder Andy Booth und beschlossen, The Cassandra Complex zu reaktivieren. Dazu verpflichteten sie Gitarrist, Bassist und Keyboarder Volker Zacharias, der seit 1990 sowieso Bandmitglied ist, und Keyboarder Axel Ermes, seit 2007 im CX-Umfeld aktiv, die beide bei den CX-Verwandten Girls Under Glass spielen sowie jeweils weitere Gothic-Synth-Rock-Meilensteine in der Vita haben, Zacharias etwa Cancer Barrack und Ermes unter anderem Trauma. Eine vortreffliche Entscheidung, die zu einem Album voller Hits führte, das sogar ein Comeback rechtfertigt. Der größte stilistische Rückgriff auf die eigene Vita erfolgt übrigens mit dem Cover: Das zitiert jenes der als zweites Album aufgefassten 12“-Compilation „Hello America“ aus dem Jahr 1987.
Und plötzlich kommt die Idee auf, das brutale Album „Sex & Death“ aus dem Jahr 1993 neu einzuspielen, und zwar mit neuen Musikern. Neben Orpheus und Booth sind dies Gitarrist Chris Haskett, der schon mit Henry Rollins und Pigface spielte sowie live seine CX-Meriten verdiente, Cellistin Mera Roberts von Black Tape For A Blue Girl und The Last Dance sowie Keyboarder Brent Heinze von Probe7. Anlass sind die bereits im Umsetzung befindliche Welttournee und der Umstand, dass „Sex & Death“ seinerzeit offenbar nur sehr limitiert herauskam und mit dieser Neuaufnahme weltweit verfügbar gemacht werden soll. Merkwürdig nur, dass der für „The Plague“ zurück an Bord geholte Zacharias nicht dabei ist, obwohl er das Originalalbum mit komponierte und einspielte. Ebenso merkwürdig ist, dass hier nur sieben der ursprünglich elf bis 13 Songs berücksichtigt sind, zudem in veränderter Reihenfolge: Es fehlen unter anderem Lieblinge wie „The War Against Sleep“ und das Suicide-Cover „Frankie Teardrop“.
Die erste sich aufdrängende Frage lautet natürlich: Braucht’s das überhaupt? Die Antwort lautet natürlich: natürlich nicht, aber jetzt ist es nun mal da. An den Songs gibt es nichts zu rütteln, die waren 1993 schon geil. Hier klingen sie aber anders, weniger druckvoll, dafür elektronischer, weniger nach Metal und Industrial, mehr nach dunklem Wavepoprock. Den größten Unterschied macht „Kneel (To The Boss)“, ursprünglich ein brutaler Industrial-Metal-Brocken, jetzt fröhlich entschärft (und um die Klammern im Titel beraubt). Zwar rockt die Band das Stück nach der Hälfte nochmal ordentlich raus, doch hat es nicht mehr die lebensverneinende Aggressivität. Es ist immer noch ein guter Song, trägt aber eine verschobene Stimmung, und genau dieses Gefühl zieht sich durch die gesamte Neuversion: Die Songs sind gut, aber die Stimmung hat sich verändert, auch bei den synthiebasierteren Songs, wobei es mit Kenntnis des Originals nicht mal eindeutig bestimmbar ist, inwiefern überhaupt. Es ist anders genug, um aufzufallen, wirkt aber mehr wie die Platte einer Cassandra-Complex-Coverband, der es an Wucht und Durchschlagskraft fehlt. Der Versuch, „Death & Sex“ zu hören, als kenne man „Sex & Death“ nicht, scheitert; in Anflügen bekommt man die Ahnung von einem okayen CX-Album, das dennoch an die Klasse von „The Plague“ lang nicht heranreicht.
Nett, mehr nicht – leider. Da wäre eine physische Veröffentlichung des bislang nur digital erhältlichen „Everything I’ve Always Wanted (Live In Berlin 2012)“ die interessantere Option gewesen. Lustig, lustig übrigens: Auf Bandcamp verkauft Orpheus das Live-Album für £6.66. Von seiner mehr als diskutablen Begeisterung für den Ordo Templi Orientis und Aleister Crowley lässt sich der Thelemit offenbar immer noch nicht abbringen, so weit reicht es mit der Reife dann doch nicht. Dafür aber musikalisch, „The Plague“ ist bombig, „Death & Sex“ wenigstens gut hörbar.