Von Matthias Bosenick (29.08.2020)
„12 Monkeys“ 2020: In diesem Zeitparadoxonfilm hat alles für den späteren Verlauf eine Bedeutung, und allein für das komplexe Drehbuch muss man „Tenet“ schon feiern. Auch wenn man nicht alles sofort erfasst, hinterlässt der Film doch den Eindruck, schlüssig zu sein, und das steigert den Genuss. Christopher Nolan mixt die Genres und wagt aberwitziges Neues in einem abgegriffenen Metier. Wer gut aufpasst, hat mehr davon, und wer dies nicht beherzigt, wird sich vermutlich langweilen. Für den aufmerksamen Zuschauer ist dies ein beachtliches Stück Hollywood.
An diesem Film gibt es so viel zu entdecken! Der Protagonist heißt hier einfach nur Der Protagonist, ähnlich wie bei „Hardcore Henry“, und der gebiert sich wie eine Mischung aus James Bond und Superheld, körperlich nahezu unantastbar und geistig so sehr auf der Höhe, dass er von Spezialisten im Vorbeigehen abgesonderte Physikexkurse stante pede beherzigt. Mit dem Auftrag, nichts weniger als den dritten Weltkrieg zu verhindern, sieht er sich mit einem absonderlichen Phänomen konfrontiert, nämlich mit Gegenständen, die aus der Zukunft stammen und in der Zeit rückwärts existieren. Pistolenkugeln fliegen etwa nach dem Abfeuern aus dem Ziel in die Waffe. Der Protagonist macht sich auf die äußerst dringliche Suche nach dem Urheber dieser Merkwürdigkeiten, da sich schnell herausstellt, dass jener die Ausrottung der Menschheit auf seiner Agenda stehen hat.
Nolan fordert von seinem Protagonisten und von seinem Publikum die volle Aufmerksamkeit. Zunächst startet er „Tenet“ noch wie einen Film der „James Bond“-Reihe: Ein smarter Agent parliert sich onelinernd durch eine verschworene internationale Gesellschaft, versucht, hinter Geheimnisse zu kommen, und dringt wie bei „Mission Impossible“ in unzugängliche Räume vor. Bis dahin erscheint „Tenet“ sogar beinahe banal und profillos, trotz vereinzelter Rückwärtssequenzen, doch sobald der grundböse – man erkennt dies an den schwarzen Augen – Russe Andrei ins Spiel kommt, geht der Tanz los. Bilderdiebstahl in Oslo, Erpressung in Vietnam, Spurensuche in Indien, Krieg in Russland, Verfolgungsjagden in Estland – und alles durchsetzt mit Zeitrückwärtsmomenten, die sich teilweise direkt, teilweise erst im Verlauf sinnstiftend aufdecken. Wer sich da mit wem eine wilde Hatz auf der Autobahn liefert, wer da in einer atomar verseuchten Stadt wem hilft, wer überhaupt hinter der ganzen Aktion steckt – der Film liefert ebenso viele beeindruckende Aha-Momente, wie er kaum weniger attraktive Offensichtlichkeiten in Kauf nimmt.
Darüber lässt sich vortrefflich debattieren, wie schlüssig nun welche Darstellung sein mag. Die Kampfszene in Oslo etwa wirkt unkämpferisch, bis man jedoch begreift, warum nur einer der Beteiligten kämpfen mag und dass der andere sich rückwärts bewegt. Nolan inszeniert dies nicht, wie man es aus Hollywood kennt, sondern eher realistisch, auf eine Weise, die vielen Zuschauern befremdlich vorkommt. Dafür wagt er eben etwas Eigenes, etwas, das man noch nie zu sehen bekommen hat; ebenso explodierende Häuser, die sich rekonstruieren, oder Bombeneinschläge, die gleichzeitig vorwärts und rückwärts laufen. Da zieht der Regisseur alle Register und lässt alle möglichen Genres der Filmgeschichte anklingen, vom Agentenfilm über das Familiendrama bis zu Kriegsfilm, „Matrix“, Western (die „Cowboyscheiße“ im Mexican Standoff am Schluss) und „Der Marsianer“.
Dabei fungiert die Sequenz in der Rückwärtsmaschine wie der Spiegel innerhalb des Films: Von da an erklären sich die Geschehnisse der eher langweiligen ersten Hälfte, die diese rückblickend unlangweilig machen. Dieser Moment macht außerdem aus dem wortgewandten Protagonisten die reine Kampfmaschine, an die Stelle des Humors tritt die Action – die jedoch, symptomatisch für den Film, etwas zu emotionslos dargestellt ist, so wie man auch zu den an sich ausgezeichnet erarbeiteten Figuren kaum einen Bezug findet. Einige Fragezeichen schleppt man ebenfalls bis ans Ende mit, wer wo was wann wie geschehen lässt oder was zum Henker ein Algorithmus in physischer Form überhaupt sein soll. Was aber alles nicht so schlimm ist, weil die Story einfach packt. Und die Hauptfigur einfach grandios gewählt ist. Und weil die Effekte nicht wie leider zu oft üblich wie billig zusammengerechnetes CGI wirken; rückwärts fliegende Möwen unter sich vorwärts bewegenden Menschen sind da nur das kleinste Beispiel. Und weil die Musik dazu stimmt, nämlich einmal nicht das Hans-Zimmer-Gedudel, sondern beinahe industrialartiges Electro-Gewummer. Und auch die Überlänge merkt man nicht, eher im Gegenteil, bisweilen wünscht man sich mehr atmosphärische Momente, Nolan hetzt durch das Programm. Aber es ist eben auch ein gutes. Zu dem der Titel passt, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, als Palindrom, wie auch der Film eines ist. Man darf gespannt sein auf die nachträglichen Ausarbeitungen der Zeitreiseproblematiken in „Tenet“.