Von Matthias Bosenick (12.04.2023)
Was für ein Ritt! Zwei Stunden dicht gepacktes Anime: Die Schülerin „Suzume“ entlässt versehentlich einen extrem zerstörerischen Wurm in die Welt und versucht nun, dem von einer sprechenden Katze zu einem dreibeinigen Holzstuhl verfluchten Souta dabei zu helfen, die Portale in die Welt der Toten zu verschließen, aus denen dieser feurige Wurm entfleucht. Ja, man muss sich auf Dinge einlassen, die in Japan offenbar zur Normalität gehören. Es lohnt sich, denn Makoto Shinkais „Suzume“ ist Coming-of-age, Roadmovie, Katastrophenfilm, Familiendrama, Mystik, Humor, Verantwortung, Abenteuer, Trauer, persönliche Entwicklung und überhaupt ganz großes Kino – und verdammt nochmal Zeichentrick, und das sehr dicht an der Realität.
Das kennt man ja von anderen Animes, dass mystische Elemente einfach dazugehören, nicht in Frage gestellt werden, jedenfalls nicht von allen handelnden Personen, wenngleich es in „Suzume“ durchaus Nebenfiguren gibt, die sich über sprechende Katzen und laufende Stühle wundern. Aber der Zuschauer nicht. Die Hauptfigur Suzume begegnet auf dem Weg zur Schule dem gutaussehenden Souta, der sie nach einer Ruine in der Nähe fragt, in der er eine Tür sucht. Neugierig geworden, folgt sie ihm in die Berge und entdeckt das Portal, das frei in einem dachlosen Gebäude steht. Öffnet sie die Tür, entdeckt sie eine Welt aus Hubble-Universen, schreitet sie jedoch hindurch, bleibt sie in ihrer Welt. Dabei kennt sie diese Anderswelt bereits aus einem sehnsuchtsvollen Traum von ihrer verstorbenen Mutter. Sie stolpert dabei über einen Stein, den sie aus dem Boden zerrt – und der als Katze davonspringt. Das Elend beginnt.
Zunächst kann Suzume zwar die erste Tür mit dem sich als Schließer bezeichnenden Souta schließen, doch verflucht die Katze ihn später und lässt ihn in den dreibeinigen Holzstuhl fahren, den Suzumes Mutter ihr vor ihrem Tod bastelte. Gemeinsam folgen sie der Katze, die via Social Media eine Spur auslegt, um Portale zu schließen und Souta zurückzuverwandeln. Dabei begegnet Suzume überall freundlichen und hilfsbereiten Menschen, quer durch Japan. Bis sie begreifen, dass die Katze ihre Funktion als den Wurm in Schach haltenden Schlussstein an Souta weitergab und Suzume die Welt ausschließlich dadurch retten kann, indem sie den Stuhl in den Wurm rammt – und damit Souta für immer verliert. Vielleicht, denn es gibt eine zweite Hälfte, in der Suzume mit ihrer Tante und einem Freund Soutas in die eigene Vergangenheit reist – um ihre eigenen trauerschweren Visionen endlich zu begreifen und abermals die Welt zu retten.
In was für einem Bilderrausch Makoto Shinkai diese üppige Geschichte erzählt! Nicht selten vergisst man, dass man es mit einem Anime zu tun hat. Gehen zwei die Straße entlang, treten sie nacheinander in einen Schatten ein, nicht gleichzeitig, das Licht ist lebendig. Jede Kamerafahrt wirkt wie eben so eine, obwohl es ja nur Zeichnungen sind, doch schwenkt das Bild, zoomt, alles, wie im Realfilm, und dabei ist überall Bewegung, ein Rausch, ein Fest für alle Sinne. Der todbringende Wurm erinnert etwas an den Mind Flayer aus „Stranger Things“, er erhebt sich nur für ausgewählte Personen sichtbar über der wunderschönen Welt und droht mit Verderben; dieses Dunkle bildet einen erschütternden Kontrast zu dem ansonsten bisweilen sogar leichten, abenteuerlichen, humorvollen und farbenfrohen Film, dessen Schwere dadurch wiederum erträglich wird.
Und Schwere gibt es in Japan einige zu tragen – der Film endet nicht zufällig in der Gegend, in der 2011 das Tōhoku-Erdbeben Zerstörung, Tod, Tsunamis und die Fukushima-Katastrophe auslöste, ja, das ist bereits zwölf Jahre her und war der Grund dafür, dass Suzume Waise ist. Doch läuft dieses Wissen vielmehr im Hintergrund mit – und eben als feuriger Todeswurm. Drumherum findet das alltägliche Leben statt, in das man hier ebenfalls Einblicke bekommt, inklusive Erdbeben-Warn-App auf dem Smartphone, Karaoke und einer Fahrt im Hochgeschwindigkeitszug, am Fuji vorbei.
So gerät die Aufgabe von Suzume und Souta natürlich auch zum Erwachsenwerden, zur Erfüllung von Aufgaben, zur Einhaltung von Verantwortung, und die beiden sind nicht die einzigen Charaktere, die hier reifen. Auch darauf muss man sich einlassen, dass die charakterliche Ausrichtung der Katze – später Katzen –, bei denen es sich überdies um Götter handelt, nicht eindeutig ist: erst heimtückisch, tödlich, arrogant, zuletzt kooperativ. Auch den einmaligen Ausfall von Suzumes Tante begreift man nicht zwingend, ebenso das Auftreten der zweiten Katze, bei der es sich um den zweiten von zwei Schlusssteinen handelt, die eigentlich den Wurm zu verbannen helfen. Auch ist offen, wer die Familie der Schließer überhaupt beauftragt hat, sowie, warum Suzume überhaupt die Fähigkeit hat, die Totenwelt und den Wurm zu sehen. Geschenkt, das steckt man weg, um den fabelhaften Film zu genießen.
Der außerdem noch mit Humor gespickt ist, das Schiebedach sei da erwähnt, die später indirekt beantwortete Frage, ob man einen Stuhl küssen kann, und der Einsatz von thematisch passenden japanischen Schlagertexten; da seien die Untertitel bei der Originalfassung gelobt. Überhaupt die Musik, als der Wurm erstmals auftritt und Suzume in der Schule sitzt, erklingt moderner, dynamischer Jazz, urst fett. Wie überhaupt die Sounds extrem fett sind, der Film hat Wumms. Und ein anrührendes Ende, für das man unbedingt den Abspann abwarten sollte, in den es eingeflochten ist. Außerdem gut ist, dass Suzume zwar offenkundig in Souta verliebt ist, dass das aber obschon Motivation für sie ist, aber nicht Kern der Geschichte. Teenage-Romanze, aber erwachsen. Nach „Your Name.“ ist „Suzume“ (oder auch „Die Tür von einem Spatz schließen“ oder „Das Türschloss des Spatzen“, je nach Onlineübersetzer des Originaltitels) der nächste Kracher von Shinkai, jetzt noch „Weathering With You“ irgendwo finden.