Suzanne Vega – Flying With Angels – Cooking Vinyl 2025

Von Guido Dörheide (18.05.2025)

Oha, Suzanne Vega. 1990 liebte ich „Luka“ (damals nicht wissend, dass es dort um schwere Kindeswohlgefährdung geht, was dem eingängigen und schön klingenden Song einen sehr wichtigen Ernst gibt) und „Tom’s Diner“ (Scheiße, jetzt hätte ich fast „Döner“ geschrieben), das ich zunächst in der ganz hervorragenden Tanzmusik-Fassung von DNA kennenlernte.

Bekloppt, wie ich damals war, kaufte ich mir nicht Vegas sophomores „Solitude Standing“, das beide Songs (wenn auch frei von DNA) enthielt, sondern ihre damals gerade neu herausgekommene aktuelle Langspielplatte „Days Of Open Hand“. Die ich mochte, aber so richtig zündete sie nicht, und trotz des Erwerbs des Debüts „Suzanne Vega“ und eben dem besagten „Solitude Standing“ verlor ich das Interesse an Suzanne Vegas Musik. Als ich dann irgendwo las, dass sie sich mit „99.9 F°“ mehr in Richtung elektronischer Musik wandte, hatte Frau Vega mich endgültig verloren, weil elektronische Musik, die nicht von Anne Clark kam, ging damals für mich gar nicht. Soviel also zum Thema Jugend und zu ihrer sprichwörtlichen Weltoffenheit – vergessen Sie es, liebe Lesenden.

Man muss erst alt werden wie ein Baum oder wahlweise auch älter als ein Schwein, um vielverschmähte Tonträger nochmal vor dem Hintergrund seiner oder ihrer mannigfach angehäuften Lebenserfahrung nochmal abzuspielen und festzustellen, dass man das Oeuvre so manches Künstlers oder so mancher Künstlerin aus fragwürdigen Motiven oder einfach aufgrund schlichtem Banausentums in die Tonne gekloppt hatte.

So erging es mir mit Suzanne Vega; ich glaube, es war aus Anlass ihrer 2020er Veröffentlichung „An Evening Of New York Songs And Stories“, das mir quasi eines brennenden Mikrowellenherdes in der CD-Abteilung eines beliebigen Saturnmarktes gleich ins Bewusstsein rief: A) Suzanne Vega ist immer noch da und B) Suzanne Vega hat im Laufe ihrer Karriere so viele wunderbare Songs geschrieben und interpretiert („Marlene On The Wall“, um nur einen zu nennen), dass es sich wohl lohnen würde, sich mit allem, was ich seit 1992 verpasst habe, nochmal eingehend zu beschäftigen. Und siehe da: „99.9 F°“ gefällt mir mittlerweile ausgezeichnet, ebenso wie alles, was die Künstlerin in den folgenden Jahrzehnten veröffentlicht hat, und auch mit „Days Of Open Hand“ (das tatsächlich auch bei größeren Experten, als ich es bin, als infolge des ausgiebigen „Solitude Standing“-Betourens eher uninspirierter Karrieretiefpunkt gilt) habe ich inzwischen meinen Frieden gemacht und höre es wieder gerne.

Bevor ich endlich zum aktuellen Album komme, möchte ich hier („an dieser Stelle“, hihi – ja an welcher Stelle denn sonst??!?) noch loswerden, dass es vor allem die von 2010 bis 2013 veröffentlichte „Close-Up“-Serie war, die mich dem Werk von Suzanne Vega wieder näherbrachte – eine Folge von 4 Alben plus einer Bonusmaterialsammlung, auf denen Vega ihre früheren Werke akustisch und apselut mitreißend interpretiert. Wer da mal reinhört, wird Vega auf ewig vergöttern.

So – jetzt aber, gehen wir es an, das neue Werk: Schon das Albumcover macht deutlich, dass Suzanne Vega ebenso sehr für New York City steht wie weiland Lou Reed oder die Ramones: Auf der Schwarzweißaufnahme steht Frau Vega mit einer Lederjacke bekleidet an eine Mauer gelehnt, steckt die linke Hand in die Tasche und schaut nachdenklich gen Himmel. Das wirkt schon mal wirklich cool, wahrhaft ikonisch und macht neugierig auf die Musik. Und die ist genau das, was ich mir gewünscht habe – in der Hauptsache melancholischer Großstadt-Folk mit ein wenig Pop und ein wenig Rock und das ganze auf routiniert hohem Niveau, ohne auch nur ansatzweise zu langweilen.

„Speaker’s Corner“ beginnt mit einer lässig-jangelnden Gitarre und einer Melodie, die mich sehr gefangennimmt – irgendwie hypnotisch, einfach und genial. Der Text beschäftigt sich mit den politischen Predigern, die auf Plätzen und an Ecken stehen und ihre Weltuntergangsbotschaften in die Welt schreien, und zunächst klingt es, als ginge es um Warner und Mahner, denen zuzuhören sich lohnt, aber so nach und nach kippt das Ganze in Negative und es wird deutlich, dass es den Predigern nur darum geht, mit ihren Prophezeiungen immer Recht zu haben, wobei sie eigentlich verzerrte Fakten predigen, Wunder versprechen und Geld in ihre Taschen füllen. In der letzten Strophe beklagt Vega diejenigen, die nur nachplappern, was sie hören, und ruft dazu auf, das Speaker’s Corner endlich mal vernünftig zu nutzen, bevor es so etwas nicht mehr gibt. Und das alles so großartig getextet und vorgetragen, dass es sich komplett großartig anhört.

Es folgt der Titelsong „Flying With Angels“, ruhiger als der Opener, von Akustikgitarre getragen und mit kryptischem Text über das Fliegen, es klingt allerdings weniger nach grenzenloser Freiheit als vielmehr nach Kontrollverlust.

Der dritte Song des Albums, „Witch“, beginnt ganz ruhig und die Ich-Erzählerin beschreibt einen Spaziergang mit ihrem Liebsten und dann taucht vor ihnen eine Person auf, die die Stimmung zum Umkippen bringt: die Hexe. Irgendwas hat die Hexe mit dem Liebsten gemacht – Jolene? Nein, es scheint hier nicht um das Ausgespanntkriegen des Partners zu gehen, vielmehr bemächtigt sich die Hexe (bei der es sich anscheinend nicht unbedingt um ein weibliches Wesen handeln muss) des Verstandes des Partners, lässt ihn verstummen, alle sind schockiert und niemand kann ihm helfen. Währenddessen ändert sich die Musik, die Melodie weicht einem dominierenden Rhythmus, während im Hintergrund eine psychedelische Gitarre spielt. „We’re living in a state of a permanent emergency / Suddenly speech is a show of absurdity“, singt Vega; hier scheint es tatsächlich darum zu gehen, dass eine vorher vertraute Person auf einmal Gedankengänge produziert, die niemand in ihrem Umfeld für möglich gehalten hätte, und niemand kann es ändern.

Song Nummer vier – „Chambermaid“ – halte ich für das Highlight des Albums, wenn nicht sogar für eins der apseluten Highlights in Suzanne Vegas Karriere: Schon die Gitarre zu Anfang klingt sehr nach Bob Dylans „I Want You“ und Vega imitiert auch die typischen Gesangsmelodien seiner Bobness auf das Vortrefflichste. Und in der Tat ist „Chambermaid“ eine neue Version von „I Want You“, in der sich Vega in die Rolle des Zimmermädchens hineinbegibt, die Dylan im Original in Strophe 3 erwähnt – das Zimmermädchen kennt alle schmutzigen Geheimnisse des Protagonisten und schweigt darüber – hier singt sie nun endlich darüber.

Im folgenden „Love Thief“ wechselt Vega da Genre hin zum Soul – überraschend und auch wieder großartig. Das sich daran anschließende „Lucinda“ ist sowohl musikalisch als auch textlich eine Hommage an die vom Schreiber dieser Zeilen unheimlich verehrten Lucinda Williams – der „Dusty Springfield of the South“, wie Suzanne Vega es formuliert. Und wie bei „Chambermaid“ schafft es Vega, den typischen Sound der großen Lucinda Williams zu reproduzieren – wobei sie den Williams-typischen, immer leicht lallenden Gesang durch ihre eigene Art, zu singen, ersetzt. Das Resultat ist umwerfend.

Auf „Last Train From Mariupol“ beschäftigt sich Suzanne Vega mit dem Angiffskrieg gegen die Ukraine und beschreibt dabei mit wenigen, aber umso eindringlicheren Worten die Schrecken, die sich in der Ukraine seit über drei Jahren (naja, eigentlich schon einige Jahre länger) abspielen.

„Alley“ ist ein wunderschönes Stück Musik, Vega haucht mehr, als dass sie singt, und leitet wunderbar zum nächsten Highlight des Albums über: „Rats“. Eine klappernde Violent-Femmes-aus-den-80ern-Gitarre empfängt die Hörenden und Vega singt beinahe schon rotzig über Ratten, die nichts zu essen haben und sich daher auf dem Kriegspfad befinden, im Hintergrund jault eine schrille Orgel. Die Schlusszeile des Refrains, „Survival of the fittest is never very pretty“ und die Schlusszeile des Songs, „Rats, rats, rats – Oh no – Welcome to this urban life“ machen dann deutlich, dass es hier nicht um Nagetiere, sondern um menschliches Verhalten in den USA der Gegenwart dreht.

Mit „Galway“ wird das Album dann am Schluss nochmal wirklich richtig schön. Trotz des irischen Titels klingt der Song zu 100 Prozent nach dem typischen Suzanne-Vega-Großstadt-Folk, für den wir sie seit – ohne Scheiß – 40 Jahren lieben. Und es geht tatsächlich um Galway, wohin ein Verehrer die Protagonistin locken will, und sie sagt, dass er zurzeit nicht Teil ihrer Zukunft ist, sie es ihn aber wissen lassen wird, falls es sich änderte. Die beiden treffen sich immer und immer wieder und der arme Kerl lässt nicht locker, hat aber am Ende eine ansehnliche Anzahl an Körben um sich geschart. Und es wird nix aus Galway. Schöner Mist.

Unglaublich an „Flying With Angels“ ist, dass sich Suzanne Vegas Stimme über die Jahrzehnte kaum verändert hat: Vega, die in den nächsten Wochen 66 Jahre alt wird, hört sich grundsätzlich immer noch so an wie damals auf „Solitude Standing“, man hört weniger ein höheres Lebensalter als vielmehr längere Lebenserfahrung und – ja, in der Tat – Weisheit aus ihrer Stimme heraus.