Von Matthias Bosenick (04.07.2022)
Emotional überwältigend in vielen Aspekten: Die vierte Staffel der 2016 als Retro-Kinder-Grusel gestarteten Netflix-Serie „Stranger Things“ macht so viel besser als die dritte, dass man den verlorenen Glauben an die Reihe nicht nur wiederfindet, sondern auch noch verstärkt. Das liegt an der stark emotional ausgeprägten Geschichte, die aufgrund der überzeugenden Figuren und der vorrangig plausibel bis stringent erzählten blutigen und monströsen Weltenrettergeschichte so nachhaltig einschlägt. Und dann rührt es auch noch an, dass man überhaupt im Jahre 2022 als x-te Staffel einer Erfolgsreihe etwas – auch filmisch! – qualitativ so Hochwertiges geboten bekommt, vor allem, nachdem es einmal so eklatant schlecht gelaufen war. Staffel 4 ist ein Einschlag, in Herz und Hirn und Innereien. Man kann nur staunen. Und man behält die Menschen aus Hawkins nachhaltig bei sich.
Es wirkt, als kehrten die Duffer Brothers die Scherben, die sie in Staffel 3 anrichteten, zu Beginn dieser Fortsetzung zusammen, schoben sie in einen stockdüsteren Brennofen und buken sie auf höchster Stufe, vermutlich 11. Anfangs geht es zwar noch um Teenagerprobleme, aber nicht mehr so quietschbunt-pastellig, sondern ernsthafter, man könnte fast sagen: erwachsener. Denkt man nach dem Ende der Staffel an diese Anfänge zurück, wundert man sich, dass die tatsächlich aus einer in der Schule gemobbten Elfie bestanden, die als Folge davon auf der Rollschuhbahn eine Widersacherin mit einem Sportgerät zusammenschlägt. Teenie-Kram, komm drüber weg, denkt man, und dann bricht die Hölle los. Auch die Romanzenaspekte zwischen den Figuren steckt man gut weg, weil sie, anders als in Staffel 3, am Übergangspunkt zum Nervigsein abbrechen und ja auch Teil der jeweiligen Lebenssituation sind; genehmigt also. Nicht nur das: Die Figuren entwickeln einen Tiefgang, und zwar alle von ihnen, den Teenager eigentlich noch gar nicht haben sollten. Zum Ende der Staffel liebt man sie wieder alle, sogar die, die zu Beginn noch schlecht nachvollziehbare Entscheidungen fällten, etwa Lucas, der sich den Sportskanonen der High School anschloss, um endlich zu den Coolen zu gehören. Und nicht länger zum Hellfire Club, dem Sammelpool der Ausgestoßenen, die sich vom zottelhaarigen, großmäuligen und höchst sympathischen Metal-Typen Eddie nicht nur bei Dungeons & Dragons anführen lassen.
Brachte Staffel 3 die zum Teil sogar unangenehm gewordenen Figuren auseinander, bringt sie die Fortsetzung wieder als Freunde zusammen, mit aller „Herr der Ringe“-Emotionalität am Schluss, sogar ohne Kitsch. Sogar inklusive Leuten, die man für tot gehalten hatte, sofern man den Abspann von Staffel 3 nicht abwarten wollte oder sich keine Trailer zu Staffel 4 ansah. In diesem Zusammenhang sind auch die in Teil 3 noch so erschütternd plakativ dargestellten Russen plötzlich ambivalent und vielschichtig: Die Spannung rund um diesen Seitenarm der Geschichte fügt sich bestens in die Gesamtspannung ein.
Und Arme hat diese Geschichte viele, ausgehend vom Abschluss der dritten Staffel und von neuen Entwicklungen. Joyce, Will, Jonathan und Elfie sind ja nach Kalifornien weggezogen. Elfie wird gemobbt, hat ihre Fähigkeiten verloren und überreagiert daher auf konventionelle Weise. Joyce bekommt Hinweise, dass Hopper noch lebt und aus einem Gulag in Russland befreit werden könnte, so sie denn Yuri, einem ausgewanderten Mittelsmann, in Alaska Geld überbringen würde; sie nimmt sich Kumpel Murray mit. Sowohl diese beiden als auch Hopper und sein Aufseherfreund Dmitri sehen sich schnell der Situation ausgesetzt, dass Yuri ein doppeltes Spiel spielt – dennoch kommt es zur Befreiungsaktion in Russland. Eins. Zwei, deutlich komplizierter: Als Eddie einer Mitschülerin bei sich zu Hause Drogen verkaufen wird, fährt eine ominöse Macht in sie, zerbricht ihre Gliedmaßen und tötet sie. Die Gesellschaft von Hawkins hat natürlich sofort Eddie und den vermeintlichen Satanskult Hellfire Club im Visier, allen voran die Basketballjungs, denen sich Lucas anschloss. Der wechselt bald wieder die Seiten, denn es gilt schließlich, die Welt zu retten. Elfie wird von diversen Mächten gejagt und landet letztlich wieder bei ihrem Papa genannten Erzeuger, der ihre Kräfte reaktivieren will, indem er sie mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert und dabei bewusst irreführende Fährten legt, besonders, was den Verbleib des Phantoms Eins sowie den Auslöser für das Blutbad in seinem Labor betrifft. Mike, Will und Jonathan bekommen in Isolationshaft den Hinweis, wo Elfie sich aufhalten könnte, und brechen mit Hilfe des bekifften Pizzalieferanten Argyle aus und auf, sie mit Suzies Hilfe zu suchen. Derweil beschützen Dustin, Lucas, Erica und Max Eddie, der immer mehr in den Fokus der Hexenjäger gerät, je mehr Leute auf übersinnliche Weise sterben. Nancy, Steve und Robin recherchieren wie bei einem Krimipuzzle, um welche Macht es sich handeln könnte, die da in die Leute fährt, um durch deren Tod ein Portal zu öffnen, und schmieden den Plan, wie sie das Böse durch das Upside Down zerstören könnten, während sich Max in der Situation sieht, das nächste Opfer dieser Erscheinung zu werden, die die Kinder und Jugendlichen auf den Namen Vecna taufen, nach einer D&D-Figur. Widersacher gibt es so viele, dass jeder Plan zunächst gut klingt, es aber doch immer wieder zu lebensbedrohlichen Hindernissen kommt – die gut 15 Stunden sind proppevoll mit Spannung und Emotionalität.
Besonders mit Emotionalität, und zwar über Teenieromanzen hinausreichend: Was letztlich Elfie Kraft gibt, sind keine übersinnlichen Phänomene, sondern die Liebe, was im Kosmos von Stranger Things auf diese Weise noch nicht zutage trat. Liebe gibt es auch zwischen den Brüdern Will und Jonathan, die sich jener versichern, insbesondere, nachdem sich Will mit seinen Emotionen einer bestimmten Person gegenüber ins Leere laufen sieht. Eddie liebt Dustin, aber anders, zwischenmenschlich, und man glaubt es diesem liebenswerten Hallodri nur zu gern. Steve liebt natürlich Nancy immer noch, die indes mit Jonathan zusammen ist, Elfie und Mike lieben sich ganz erheblich, handlungsentscheidend ja sogar, Lucas und Max nähern sich wieder an, und Hopper und Joyce übernehmen die erwachsene Seite der Romantik; interessant am Rande ist, dass eben diese emotionalen Momente von den Schauspielern improvisiert sind – die steckten offenkundig deutlich tiefer in ihren Figuren als die Drehbuchautoren. Nicht zuletzt ist der große Zusammenhalt zwischen den einst zerfaserten Verbindungen die größte Überzeugung dafür, dass man es hier mit Liebe zu tun hat, denn jeder steht für jeden ein, und sei es nur, dass Argyle den Rettern mitten auf einer ihm zwar fremden, aber nicht suspekten Mission schnell mal eine leckere Pizza backt. Dem Zuschauer fällt es dadurch leicht, alle Figuren seinerseits ins Herz zu schließen, denn nicht nur, dass die Charaktere plötzlich wieder so positiv gestaltet sind – sie sind dies plausibel aus der Geschichte hergeleitet. Die zudem auch noch schlüssig zu sein scheint: Was geschieht, wirkt sich aus und widerspricht sich nicht, trotz kleiner Lücken am Schluss über den Verbleib einzelner Figuren; Plotholes halten sich in kaum wahrnehmbaren Grenzen.
Und dann ist diese TV-Serie auch noch großes Kino, deutlich größer als die auch optisch flache Staffel 3. Selbst der noch teeniemäßige Auftakt hat schon dunkle Untertöne, und als das Böse so richtig ausbricht, kehren sich die Verhältnisse um und das Dunkle bekommt nur noch gelegentliche Teeniethemen eingewebt. Das Dunkle ist hier so dunkel, dass man von einer Kinderserie schon längst nicht mehr sprechen kann. Zwar erinnert die Darstellung Vecnas in Lila-Blau-Rot-Tönen an die Kulissen deutscher Neunziger-TV-Shows und hat das skelettartige Äußere der Figur selbst weniger Schrecken, aber dafür obsiegen deren omnipotente Fähigkeiten mit Bedrohlichkeit. Potential für Gewalt und Blutvergießen gibt es an so vielen weiteren Stellen: Militärmächte, die Elfie jagen, Demogorgons, die das Gulag auseinandernehmen, rechtstickende Basketballspieler, die die Mitglieder des Hellfire Clubs zur Strecke bringen wollen. In der Darstellung sind die Duffer Brothers schonungslos, hier fließt Blut, hier fliegen Köpfe, hier stürzen Hubschrauber ab, hier brennt der Planet. Das ist eine physische Wucht, die der emotionalen entgegensteht und sie noch potenziert. Was vermutlich weniger eindrucksvoll gelänge, wären die Bilder nicht so großartig. So oft beweisen die Duffer Brothers hier, dass Fernsehen eben auch etwas mit dem Sehen zu tun hat: Überblendungen, Montagen, Tiefenschärfe, Bilderarrangements – es ist ein Fest, diese vierte Staffel überhaupt zu gucken. Das Gulag mit dem schwebenden Schnee, der aussieht wie die Partikel im Upside Down, optisch ähnliche Übergänge zwischen den Seitenarmen der Handlung, und als besonderer Höhepunkt gleich zu Beginn der Zusammenschnitt von Basketball-Finale und D&D-Partie, wenn Zwanzigkantwürfel und Ball dieselbe Rolle einnehmen; der erste große von unzähligen folgenden visuellen Whoa-Momenten der Staffel.
Natürlich die Musik, Achtziger-Hits von Baltimora über Siouxsie And The Banshees bis Metallica mit Kate Bush und dem eigenen Score als Höhepunkte, alles aber so dezent eingesetzt, dass man nicht zugedudelt wird, großartig. „Running Up That Hill“ bekommt hier zudem eine neue Ebene, insbesondere im „Totem Mix“ zum Schluss – zum Niederknien.
15 Stunden bieten natürlich viel Potenzial für noch mehr spannende Details. Robert Englund spielt hier eine Figur, von der die Helden zunächst annehmen, sie stecke hinter Vecna; Freddie Krueger ist hier nicht wiederzuerkennen. Filmisch und inhaltlich finden sich selbstredend unzählige Anspielungen, an die „Goonies“, an „Alien“, an „Für eine Handvoll Dollar“, an „Gesprengte Ketten“, an „Carrie“. Schauspielerisch sind hier fast alle gereift; einzig Will und Mike bleiben hölzern. Und doch liebt man sie alle. Auch für die Dialoge, die hier zum Teil ein entwaffnendes Humorpotenzial ausschöpfen, allen voran Eddie und Argyle. Und dann die Easter Eggs, die manche im Internet herausfinden: Als Nancy sich einmal verdeckt ermittelnd „Ruth“ nennt, ist das selbstredend das Akronym von „Running Up That Hill“.
Natürlich bleiben einige Fragen offen: Warum etwa offenbart sich Vecna Nancy, wenn er zum Umsetzen seines Planes doch nur noch Max als Opfer braucht, die das auch längst weiß? Wo sind Yuri und Dmitri? Wo ist Sullivan, der Typ, der Elfie töten will? Was hat es mit den verschwundenen Partikeln im Gulag auf sich? Wie sind die Helden aus dem Upside Down entkommen, obwohl Eddie die Strickleiter aus Bettlaken kappte? Warum haben die Walkie-Talkies eine so unfassbar große Reichweite? Warum reagieren die Demogorgons so eine unterschiedlich anfällig auf Beschuss? Wie schieben die Russen die Demogorgons jeweils nach einer Opferzeremonie wieder zurück in die Katakomben? Was hat Vecna in Staffel 1 mit Will angestellt? Wo ist Acht? Es steht zu hoffen, dass Staffel 5 die Fragen beantworten wird, wie Staffel 4 ja auch die Staffeln 1 bis 3 zusammenschob: Vecna, das Upside Down, die Demogorgons und der Mind Flayer haben einen simplen, aber ausreichend überzeugend erklärten Zusammenhang. Auch der wird sich auf die Geschichte in Staffel 5 auswirken, wie man am Schluss zu sehen bekommt. Und nun – nachdem Staffel 1 ein Überraschungstreffer war, Staffel zwei nach zwei Dritteln die Luft ausging, Staffel 3 abkackte und Staffel 4 so mächtig gut gelungen ist – schürt es nur doch wieder die Furcht, dass es so gut nicht wieder werden kann.