Von Matthias Bosenick (09.04.2023)
„Die Chemie stimmt“, schreibt Stefan Thoben – in einem Buch über Bitterfeld bekommt diese positive Einschätzung gleich mehrere bedeutungsvolle Ebenen. Wie schon in seinem Debüt „Ein Traum in bunt“ über das Ruhrgebiet berichtet der Journalist in „Ein Kessel B.“ von einer Radreise, hier im Rahmen eines Kulturfestivals zum ostdeutschen Komplementär. Dabei ist er dieses Mal vorbereitet und nimmt ein wenig die Rolle von Peter Lustig ein: Scheinbar unwissend nähert er sich den Menschen, die schon da sind, und stellt ihnen stellvertretend für alle Lesenden Fragen, die er offen und herzlich beantwortet bekommt. Gleichzeitig offenbart er eine immense Recherchetiefe, die alle denkbaren Themen abdeckt, Industrie, Umwelt, Politik, Geschichte, Kultur. Anders als bei seinem ersten Trip hat Thoben dieses Mal zudem eine Agenda: Er will ehemalige Bitterfelder Schulkinder finden, die seine lokale Zeitung Anfang der Neunziger zur Lungengenesung an die Nordsee schickte. Thoben weiß, wie man sym- und empathisch auf Menschen zugeht – und mit den so erlebten Geschichten einen mitreißenden Sog entwickelt.
Immer lächeln, auch wenn’s bitter fällt. Die Stadt in Sachsen-Anhalt hatte dank ihrer Industrie und der daraus resultierenden Umweltbelastung schon zu DDR-Zeiten in Ost und West einen schlechten Ruf, schlechter noch als das Ruhrgebiet, und das will etwas heißen. Tagebau, Chemie, Kraftwerke, überall Asche, Ausdünstungen, Abholzungen, und dadurch Gesundheitsschäden, Todesfälle, Verpestungen. Mit der Wende setzten Schließungen ein, ökologische und ökonomische Umbrüche, Arbeitslosigkeit, Strukturwandel, Abwanderung, also ganz wie ungefähr parallel tief im Westen auch. Nur kommt in der Gegend um Bitterfeld erschwerend eine DDR-Vergangenheit hinzu, die die Menschen noch anders prägte, kulturell, politisch, gesellschaftlich, und sie zwischen Aufbruchstimmung und Resignation zurückließ (lediglich der Fußball fehlt im Osten). Auch Bitterfeld hat wie das Ruhrgebiet mit Klischees zu kämpfen, Thoben kennt sie alle, als er sich aufmacht, den Sommer 2022 anlässlich des Kulturprogramms OSTEN dort zu verbringen.
Das ist also ein Zweig des Buches: OSTEN, ein Festival, das den „Bitterfelder Weg“ nachzeichnet, ein 1959 gestartetes DDR-Programm, das aus Arbeitern Künstler machen sollte. Und machte, der „Zirkel schreibender Arbeiter“ etwa war ein Resultat dieser Bewegung, und Thoben hat viele Bücher von Zirkel-Autoren im Gepäck. Hauptsächlich „Flugasche“ von Monika Maron, die darin die Stadt bereits 1981 mit „B.“ abkürzt, was Thoben im Titel seines Buches aufgreift und mit dem Namen einer DDR-Fernsehshow verbindet (eine weitere Analogie zum Pottbuch, das sich an Böll abarbeitete). OSTEN im Kulturpalast zu Bitterfeld greift die Tradition der Bitterfelder Konferenzen auf, denen damals der „Bitterfelder Weg“ entsprang, und ermöglicht Thoben tiefe Einblicke in den Spagat zwischen nicht nur kultureller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an diesem Ort.
Der zweite Zweig besteht aus Thobens Suche nach ehemaligen Teilnehmern einer Kur an die Nordsee, die die Lokalzeitung seiner Geburtsstadt Oldenburg 1991 und 1992 ausrichtete. Mit laminierten Zeitungsberichten begibt sich der Autor auf Holmes‘ Spuren und recherchiert, trifft, befragt, interviewt, was das Zeug hält, zunächst, wenn nicht ins Leere laufend, dann immerhin mit der Hoffnung auf einen weiterführenden Kontakt. Auf den Spuren beider Zweige und mit ganz viel Wissen, Respekt und Leidenschaft radelt Thoben nun in Bitterfeld-Wolfen umher, weiß, was wo früher war und warum und wie nicht mehr, an Goitzschesee und Muldestausee, in Wolfen-Nord, Greppin, Kleingärtnervereinen, Filmschauplätzen, Zeitungsarchiven, Gemeindeverwaltungen, Industriesiedlungen, Brachen, zwischen Raguhn im Norden und Sausedlitz im Süden, und überall entdeckte er nicht nur überraschende Schönheit, sondern begegnet auch noch aufgeschlossenen, freundlichen, herzenswarmen und schonungslos mitteilsamen Menschen; bei der Art und Weise, wie Thoben selbst unterwegs ist, spiegeln sie im Grunde nur sein Verhalten, denn er betreibt seine Recherchen seinerseits freundlich, empathisch, einfühlsam. So fällt es Lesenden noch leichter, sich vorzustellen, die Reise mit ihm angetreten zu sein.
In diesem Buch zeigt Thoben stapelweise Fotos, die er auf der Reise schoss, und wie schon im ersten Buch sind die zwar nicht unbedingt reiseführertauglich, aber anschaulich, bisweilen in ihrer grafischen Ästhetik kunstvoll. Den Fotos stellt er häufig Zitate zur Seite, nicht immer die Gegend betreffend, sondern thematisch passend aus allen möglichen Kulturgattungen, etwa von Fehlfarben, Nina Hagen, Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs und ganz vielen Kulturschaffenden, von denen man nicht zwingend bereits etwas gehört hat, deren Äußerungen aber wie die Faust aufs Auge passen und die den Eindruck erwecken, Thoben habe ein Universum im Kopf, das er bei Bedarf einfach abruft und dessen abgelegenste Eckpunkte miteinander verbindet. Nicht selten auch mit Humor.
„Ein Kessel B.“ ist sehr persönlich geraten, transparent lässt Thoben die Lesenden an Erfolgen und Misserfolgen teilhaben, er spricht seine Leserschaft bisweilen sogar direkt an. Sehr häufig ist er angesichts seiner Begegnungen spürbar beseelt und glücklich, das zieht sich durch das gesamte Buch, man spürt, dass die Menschen in Bitterfeld-Wolfen – bis auf junge Leute, aber das ist wohl überall so – Freude am Kontakt mit diesem neugierigen Reisenden haben. Der auch noch politisch gesund ist: Erfreut stellt er fest, dass er seinem ersten offensichtlich als solchen erkennbaren Nazi erst auf dem Bahnhof bei der Abreise begegnet.
Aus dem Sumpf der DDR und der Industrie erhebt sich Bitterfeld mit einer stoischen Zufriedenheit in der Bevölkerung, so scheint es. Thobens Buch beschreibt dies mit weit ausgebreiteten Armen und empfiehlt damit die dringende Reise dorthin. Und es macht neugierig, wohin sich der Hannoveraner als nächstes aufmacht – das Buch dazu ist jetzt schon gekauft. Wie dieses, auch, um herauszufinden, ob Thobens Nordsee-Recherche von Erfolg gekrönt ist. Ganz sicher ist: Die Chemie stimmt.