Spezial: René Seim + Windlustverlag

Von Matthias Bosenick (17.12.2020)

Für den Rezensenten ist es ein schwieriges Terrain: Lyrik, Gedichte, Poesie, da fehlt ihm im allgemein und grundsätzlich der Zugang. Nun bildet dies jedoch den Schwerpunkt im Schaffen des Dresdener Autoren und Verlegers René Seim. Eine Betrachtung seines Oeuvres aus der Position des Unbeleckten kann daher nur viel zu weit am Wesen der Dinge vorbeigehen. Versucht sei eine Annäherung an drei Bücher des Multitalents, der nicht nur als Autor und Verleger (Windlustverlag), sondern auch als DJ Cramér („Wildblumenblues“, „Wildes Parfum“), Fotograf und Labelbetreiber (Head Perfume Records) tätig ist: „Bunte Hunde, wilde Vögel“, „Spielereien einer vielschrötigen Flöte“ und „Fliegende Fenster“, allesamt erschienen im eigenen Windlustverlag.

Fliegende Fenster (5. korrigierte Auflage 2018/Erstausgabe 2017)

Hierin sammelt Seim „Kurzgeschichten & Szenen“, oder auch: „Dialoge, Szenen, Prosa“, oder auch: „Dialogtheater“, allesamt Selbstbeschreibungen auf dem und im Buch. Tatsächlich sind es zumeist eher kurze Geschichten als Kurzgeschichten, besser noch: zumeist kurze, anschaulich in Szene gesetzte Dialogsequenzen zwischen Menschen, die sich selbst und sich gegenseitig nicht verstehen. Kaum eine Figur dieser 66 Begegnungen erweckt einen sympathischen Eindruck, häufig sind überhöhte Erwartungen an andere der Auslöser für die Dialoge, die dann indes häufig ins Leere ausfransen, und wenn den Autoren der Hafer sticht, auch ins Absurde, Beleidigende oder gar Beklemmende. Dabei steuert Seim selten auf eine Pointe zu, er ist vielmehr ein Freund des abgelenkten Endes, der Versandung, manchmal der Zurücknahme, bisweilen der Eskalation. So ziemlich jede der sich ergebenden Situationen hätte man selbst anders aufgelöst, daher fällt die Identifikation schwer; die ist dann aber offenbar auch gar nicht die Intention des Autoren, sondern wohl eher ein Bild, das er malt und mit dem er Welten darstellt, die außerhalb des eigenen Erlebens des Lesers stattfinden. Sollte es jedoch des Autoren Erleben sein, wünscht man ihm andere Freunde.

Paarbeziehungen sind ein häufiges Schlachtfeld, das Seim hier beschreibt, und das verwundert nicht, sind die doch seit Menschengedenken bester Auslöser für in Film, Funk, Fernsehen und Feuilleton abgebildete Konflikte, so auch hier, nur eben in der oben beschriebenen Ausrichtung, also in unerwartet abdriftende Entwicklungen steuernd. Verwunderlich sind die willkürlich anmutenden Sexualitätsanbahnungen, die Seim hier gelegentlich unterschiebt, so als wäre die Lust an der Unverbindlichkeit größer als die an der Verlässlichkeit; so ist es in der Gesellschaft allgemein zwar offenbar Usus, nur dass es hier schwerfällt, herauszulesen, ob die Texte dies mahnend abbilden oder doch eher feiern. Ein weiteres Themenfeld sind Männerbegegnungen, und wenn den hier abgebildeten abermals der eigene Erfahrungshorizont des Erzählers zugrundeliegt, ist man geneigt, Dresden weiträumig zu umfahren, was jedoch der Kenner als Versäumnis tadeln würde. Man hofft also, dass Seim nicht nur ein guter Beobachter, sondern zudem ausnehmend fantasiebegabt ist.

Sprachlich pendelt Seims Prosa zwischen augenscheinlich banal und tatsächlich überwältigend; er ist zu Großem in der Lage und schiebt es dem Lesenden fortwährend in die scheinbar leichte, eigentlich vielmehr leichtfüßig erzählte Lektüre, beinahe, als verfolge er einen unterschwelligen Bildungsauftrag. Und wenn Seim dann die Sprache nach seinen Regeln verwendet, gerät man ins Staunen, denn dann generiert er komplexe Komplexe, abstrakte Gebilde, poetische Panoramen, emotionale Enigmen, und man möchte auf den entsprechenden Stellen stehenbleiben, in ihnen verweilen, verharren, den weiteren Fortgang der Geschichte (oder des Gedichts, da gelingt ihm Ähnliches) abwenden, oder besser: in diesem Stile fortsetzen, doch das gönnt einem der Autor nicht, er fährt das Sprachniveau wieder herunter und im vertrauten Tonfall fort, und der hat etwas angenehm Kumpeliges. Somit gestalten sich Seims Texte als verspielt mit einigen Gewichten, und das gilt auch bei den Gedichten.

Bunte Hunde, wilde Vögel (überarbeitete Ausgabe 2019/Erstausgabe 2012)

Bei Seims Lyrik kommt noch der Reim hinzu. Manche seiner Gedichte machen dabei den Eindruck, als folge der inhaltliche Fortgang dem sich aufzwingenden Endreim. Daher kann man, jedenfalls als der Poesie nicht Kundiger, die Gedankengänge des Poeten nicht immer nachvollziehen und fühlt sich dann etwas orientierungslos. Sollte dies in der Lyrik indes üblich sein, bestätigt es den Eindruck des an Erfahrung diesbezüglich armen Rezensenten, mit dieser Gattung nicht warmwerden zu können. Bis man auf Passagen wie jene in „Wolf“ stößt, die den Lesenden mit ihren sprachlichen Bildern schier umhauen: „Hinter ein paar dunklen Bäumen / kauert eine morsche Mondscheinbar. / Vier schwere Männer spielen Blues / mit bösen Krähen tief im Haar.“ Leider bleibt es so nicht durchgehend, aber immer mal wieder, so dass es – wie in Seims Prosa – fortwährend zu beachtlichen sprachlichen Überraschungen kommt, auf die man bei der Lektüre begierlich hinfiebert.

Auch in den Gedichten porträtiert Seim eine diffuse Sicht auf Sexualität und Partnerschaft; als fühle sich der Ich-Erzähler von Frauen ignoriert, hätte unerfüllte Sehnsüchte, als einzige Erfahrung Zurückweisung erhalten oder von außen überhöhte Ideen von Beziehungs- oder Kontaktanbahnung. Es scheint an mancher Stelle, als fordere der Erzähler trotzig etwas ein, das ihm zustünde, ohne selbst etwas dazu beitragen zu wollen; eine Konstellation mithin, die nicht eben auf Gleichstellung basiert und offenbar gesellschaftlich als so normal gelebt wird, dass ein unbedarfter Herangehender sie deshalb auch für sich reklamiert, aus seiner Erfolglosigkeit jedoch nicht ableitet, den Kurs zu ändern. Man möchte dem Ich hier einige Male zurufen: So wird das nix! Dabei scheint es Seim grundsätzlich gut mit den potentiellen und tatsächlichen Paaren zu meinen: In „Bumse Bum-Bum“ hat eine Frau zahlreiche Liebhaber und scheitert an einem, der von ihr etwas anderes will als nur den Sex, was sie allmählich wachrüttelt und ihre Werte überdenken lässt. Damit wirft der Autor kritische Blicke auf beide Geschlechter, denn schließlich sind Männer, die den Menschen in der Frau sehen, und nicht das Objekt, in diesem Text ja die Ausnahme.

Dieses Buch bildete für Seim 2012 übrigens den Anlass, seinen Windlustverlag zu gründen. Dieser Ausgabe sind minimalistische Zeichnungen hinzugefügt.

Spielereien einer vielschrötigen Flöte (vierte Auflage 2018/Erstauflage 2016)

Außerdem drückt Seim in einigen Gedichten seine politische Haltung aus, und die ist, wenn auch spärlich, so doch klar gegen Krieg, gegen Diktatur und auch gegen Kapitalismus (für einen Verleger sicherlich ein Spagat); das reicht ja auch als Wink, das politische Gedicht ist nicht Seims Intention, da ist er ja zu nichts verpflichtet, und doch ist es schön, als Leser davon Kenntnis zu haben. Das Politische findet eher in diesem Gedichtband Niederschlag, die „Bunten Hunde“ sind tänzerischer, die „Flöte“ ist indes verspielter; eine latente Ernsthaftigkeit durchweht all seine Bücher. Zudem ist dieses Buch mit ganzseitigen Farbfotografien gespickt, die das interpretatorisch Freie seiner Gedichte übernehmen.

Nicht immer ist man allerdings in der Lage, dem Lyriker zu folgen, sein Mitteilungsdrang scheint groß zu sein. Das äußert sich auch darin, dass er nicht nur eine schier unüberblickbare Fülle an Büchern mit seinen Gedichten herausbringt, sondern diese auch fortwährend von Auflage zu Auflage überarbeitet. Bisweilen versetzt er seine Texte mit Bildern, fotografierten wie gezeichneten, und unterstreicht damit seine Vielseitigkeit.

Einige seiner Bücher bringt Seim, je nach Auflage, auch mal im praktischen Hosentaschenformat heraus, und so eignen sie sich für den schnellen Verzehr zwischendurch, in Öffis, in der Kneipe, bevor die Verabredung eintrifft, vor dem Schlafengehen. Unterhaltsam sind sie alle, auch wenn man es mit der Lyrik nicht so hat, und sie vermitteln den Eindruck, als könne der Autor selbst sehr gern derjenige sein, auf den man in der Kneipe wartet. Dresden bietet da ja einiges an attraktiven Verbringungsorten an. Und man ahnt, dass die Texte Seims auf Bühnen von ihm vorgetragen am besten funktionieren.

Und fragt sich mit ihm: „Was, wenn das Leben gar kein Witz ist?“

www.headlust.de.