Spezial: Nemu Records – Fünf Veröffentlichungen – 2022-2024

Von Matthias Bosenick (13.06.2025)

Seine letzten fünf Veröffentlichungen teilt das Jazz-Label Nemu Records. In dieser Sparte gibt es keine Band- oder Projektnamen, hier heißen die Zusammenkünfte wie die Beteiligten, und ein Name taucht auf allen fünf Covern auf: Klaus Kugel, Schlagzeuger und Percussionist – und gleichzeitig einer von zwei Labelbetreibenden. Zu hören gibt es hier: „Live At FreeJazzSaar 2019“, „No ToXiC“, „Black Holes Are Hard To Find“, „Yamabiko Quintet“ und „Transitions – Transatlantic Five“.

Frank Paul Schubert, Michel Pilz, Stefan Scheib & Klaus Kugel – Live At FreeJazzSaar 2019 (2024)

Der Albumtitel wird dem Festivalnamen gerecht: Was die vier Musiker hier spontan auf die Beine stellen, dürfte mit Free Jazz ganz gut kategorisiert sein. Improvisierter Free Jazz zudem, denn das Quartett kam am 5. April 2019 spontan zusammen, weil auf dem Festival in Saarbrücken krankheitsbedingt ein Slot frei wurde. Der 2023 verstorbene Saxophonist und Pianist Charles Gayle hätte eigentlich den Platz einnehmen sollen, deshalb tauften die Substitute die drei spontan entstandenen Tracks auch schlichtweg „Where Is Charles“ mit aufsteigender Nummer. Ebenfalls 2023 verstarb der hieran beteiligte Michel Pilz, dies ist somit sein Vermächtnis.

Der erste Teil ist gleich so lang wie ein Album, nämlich 43 Minuten. Zunächst finden sich die vier Musiker – neben dem genannten Klaus Kugel, der die Schellen seines Schlagzeugs grundsätzlich wohl recht gern bedient, sind dies Alt- und Sopran-Saxophonist Frank Paul Schubert, Bassklarinettist Michel Pilz und Kontrabassist Stefan Scheib; eine Blasinstrumentdominanz lässt sich herauslesen – behutsam aneinander antastend zusammen und feuern dann ab, was sie können, und das ist, auch ohne festgelegte Komposition miteinander freien Jazz zu generieren. Das Schlagzeug und der Bass stecken den Rahmen fest, innerhalb dessen sich Saxophon und Klarinette entfalten, von kontemplativ versunken bis wild wirbelnd. Auf diese Weise generiert das Quartett Wellen: Einmal ziehen sie sich zurück, sammeln Kräfte, ordnen sich an, und andererseits rollen sie los, wirbeln auf, überschlagen sich – aber selbst in scheinbar chaotischen Sequenzen nie so, dass man sich schmerzverzerrt die Ohren zuhält.

Höhepunkt dürfte die Highspeed-Passage kurz nach der Mitte des ersten Teils sein, wenn alle wirklich wild durcheinanderspielen, die Tonfolgen sich überschlagen und das Hi-Hat dem Ganzen einen Rausch überzieht. Auch die Swing-Passage gegen Ende überrascht, weil die nun so gar nicht improvisiert klingt. Etwas unplausibel erscheinen zunächst die Indizes, insbesondere mit Blick auf die Spieldauern: Teil zwei ist zehn Minuten lang, Teil drei sogar nur anderthalb, und Teil eins birgt bereits derartig viele Brüche, dass man bereits dort stapelweise Indizes hätte setzen können. Doch tatsächlich stellen diese Brüche auf der Bühne vorgenommene Unterbrechungen dar, für die das Quartett jeweils neu ansetzt. So beginnt der zweite Teil wie ein Energieausbruch und wandelt sich dann temporär in die verträumt klingelnde Anmutung von Aphrodite’s Childs „The Four Horsemen“. Und dann in eine milde Kakophonie. Für den Abschluss drehen sie nochmal alle drei miteinander geordnet auf.

Dieses Album klingt wie von Leuten zusammengetragen, die einander bestens kennen, doch das stimmt gar nicht. Teilweise, so lässt die Info wissen, spielten sie nämlich noch nie zuvor miteinander. Umso berauschender fällt das Ergebnis aus, das den Eindruck von Komposition erweckt und doch aus der Hüfte auf der Bühne entstand.

Glod Ramond Kugel – No ToXiC (2024)

Mit einem Instrument weniger und im Studio fanden sich Alt- und Sopran-Saxophonist Roby Glod, Kontrabassist Christian Ramond und der nämliche Klaus Kugel zusammen, um miteinander „No ToXiC“ zu komponieren und zu improvisieren. In der Studiosituation rücken die Musiker näher an die Hörerschaft heran, man wähnt sich unmittelbarer dabei, während das Trio seine Stücke entstehen lässt.

Die sind zwischenzeitig wahrhaftig frei: Die Rhythmusmusiker versinken in losgelösten Takten, der Melodiemusiker vermeidet jene zugunsten von aberwitzigen und irrsinnig schnell gespielten Tonfolgen, die gelegentlich an Klezmer erinnern. Hier findet jeder seinen Freiraum inmitten der Dichte: Obschon so manche Passage miteinander entfesselt tost, lassen sich die drei ausreichend Ruhe, um jeweils für sich vor sich hin zu spielen. Damit probiert jeder von ihnen auch mal ungewöhnliche und unerwartete Experimente aus, Kugel etwa mit dem Einsatz von Elementen seines Drumkits, die er im regulären Fluss eher meiden würde, Ramond mit verschachtelten Solo-Bassfiguren oder Saitenkratzern und Glod, indem er sein ansonsten tirilierendes Instrument dezent atonal spielt. Außerdem belässt es das Trio nicht beim komplett Freien, denn zwischendurch lässt es durchaus zu, dass man so nervös mit dem Fuß wippt, wie die Musiker spielen. Oder man zu den stilleren Momenten chillt.

Mit „Carol’s Dream“ von der 2016 verstorbenen Jazzpianistin Connie Crothers findet sich eine Coverversion in dieser Sammlung, der Rest der 14 Tracks entstand eigens für dieses Album. Für dessen Abschluss gönnen sich die drei noch einen schrägen, aber ruhigen Rauswerfer.

Frank Paul Schubert, Kazuhisa Uchihashi & Klaus Kugel – Black Holes Are Hard To Find (2022)

Deutlich schwieriger zugänglich ist „Black Holes Are Hard To Find“. Der bereits von dem Saarbrücken-Konzert bekannte Schubert bringt wieder seine zwei Saxophone mit an Kugels Drumkit, die dritte Position nimmt Kazuhisa Uchihashi (内橋和久) ein, mit E-Gitarre und Synthesizern. Jener ist Gründer des Impro-Trios Altered States und in seiner improvisierten Spielweise gänzlich unangepasst. Er lässt seine Gitarre freundlich wimmern, dass man Beruhigungsmittel verabreichen möchte. Auch bringen die beiden Mitspieler zunächst mehr Chaos als Ordnung mit, zumal das Saxophon zur Dissonanz ja von sich aus schon neigen kann.

Doch dranbleiben lohnt sich: Im Verlauf des Titelstücks beruhigen sich die drei wieder, kommen so langsam runter und lassen ihre Klangerzeuger zwar nach wie vor tirilieren, doch erheblich entspannter. Hier wird umso deutlicher, wie ungewöhnlich eine E-Gitarre in so einem freien Jazzkontext wirkt. Tatsächlich sind die drei Musiker alsbald sogar dazu bereit, strukturierter vorzugehen und Ideen von Bebop und Swing zuzulassen.

So ganz ab rückt das Trio von Chaosmusik aber nie. Und haut so manches ungewöhnliche Element mit in die Gemengelage, etwa ein per Stimme generiertes Trillern. Die Synthie-Effekte zirpen, quietschen und knarzen weitere unjazzige Momente in diesen Jazz, umso prägnanter wahrnehmbar, je reduzierter die anderen Musiker sich verhalten. Manche Tracks gestaltet das Trio wie eine Art Hörbuch, man bewegt sich mit den Musikern durch eine Narration, in der Figuren aufeinandertreffen und miteinander interagieren. Trotz der E-Gitarre hört man hier keine Rockmusik, davon ist das Album sehr weit entfernt, obschon zum Schluss hin kurzzeitig ein Western-Twang zu vernehmen ist.

Den Sturm des Anfangs zieht das Trio gottlob nicht durch, über die Brücke des Vertrauten schreitet es ins Fragmentarisch-Freie. Darin liegt die Spannung dieses Albums, denn später wird die Musik brüchig, durchlässig, episodenhaft und auf eine ruhigere Art herausfordernd.

Michel Pilz, Reiner Winterschladen, Frank Paul Schubert, Christian Ramond, Klaus Kugel – Yamabiko Quintet (2023)

Dieses nach einem japanischen Berggott benannte „Yamabiko Quintet“ könnte man beinahe als Big Band auffassen: Zu den Rhythmikern Kugel und Ramond gesellen sich Altsaxophonist Schubert, Bassklarinettist Pilz und Trompeter Reiner Winterschladen, um dem freien Jazz etwas Fettes zu verleihen. Sofern sie denn nicht frei umeinanderdrehen. Dieses Miteinander besticht durch die unterschiedlichen Klangfarben, die jedes der drei Blasinstrumente mitbringt – miteinander entwickeln sie Power, in den Soli spielen sie ihre Eigenheiten aus.

Zwar besteht das Album in der Hauptsache aus Jazz, doch hört man es den fünf Musikern an, dass sie gelegentlich Bock auf Energie haben und beinahe losrocken. In den gemeinschaftlichen Momenten hat das Album sogar etwas von New Orleans. Auch zu sparsameren Arrangements ist das Quintett bereit, dann fahren alle ihre Musiker Intensität herunter, lassen die Stücke mäandern, treten zugunsten von Solisten in den Hintergrund und verleihen dem Mix aus figürlichem und freiem Jazz eine zusätzliche Tiefe.

Sieben der acht Stücke auf diesem Album stammen aus eigenen Federn der beteiligten, eines davon, „Cloudscape“, von allen fünf. Als achtes covert das Quintett an zweiter Stelle „Sandrinella“ von dem japanischen Jazz-Trompeter Itaru Oki (沖至). Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Winterschladen dereinst Mitglied war bei einer Blasmusikkapelle mit dem programmatischen Namen Tätärä. Diese Expertise bringt er hier wahrnehmbar und gewinnbringend ein.

Nate Wooley, Ken Vandermark, Christopher Dell, Christian Ramond, Klaus Kugel – Transitions – Transatlantic Five (2023)

Abermals als Quintett sind die „Transitions“ eingespielt, indes anders besetzt: Zwar besteht das Rhythmuskorsett einmal mehr aus Ramond und Kugel und sind mit Nate Wooley ein Trompeter und mit Ken Vandermark ein Tenorsaxophonist und Klarinettist dabei, doch spielt Christopher Dell als fünfter Mann das Vibraphon und trägt damit eine glockige Helligkeit in den freien Jazz hinein. Da zwei der fünf Musiker aus den USA kommen, steht „Transatlantic Five“ offenbar für den Namen dieser Zusammenkunft, nicht nur als Appendix des Albumtitels.

Der Gesamtsound ist schon etwas kurios: Rhythmiker und Bläser generieren Chaos, und mittendrin chillt das Vibraphon freundliche Töne vor sich hin. Aber es ist nicht alles Lärm und Chaos auf diesem Album, das Quintett zieht sich zurück und hält sich bedeckt, generiert beinahe unheimliche Momente und driftet ins Schräge. Oder in traditionell anmutende Jazzmomente, wenn Schlagzeug, Bass und Vibraphon die Lufthoheit bekommen. Aber dann geht’s auch wieder los, das Schlagzeug gibt den Rahmen vor, die anderen ackern sich ab. Und zwischendurch erzeugen die fünf sogar hellichte Momente voller Schönheit.

Zum Abschluss entlässt das Quintett die Hörenden in die Dunkelheit, die Stille gewinnt Oberhand, die Gerätschaften schnarchen, klickern, schnaufen. Musik ist nicht mehr zu hören, es ist Zeit für Ruhe, den Übergang von Tag zu Nacht, von Wach zu Schlaf.