Von Matthias Bosenick (11.03.2020)
Einen vierten Schwung CDs brachte das Label addicted/Noname auf den langen Weg von Moskau nach Braunschweig, gefüllt mit einer feinen ergänzenden Auswahl aus dem eigenen Repertoire. Mit dabei sind dieses Mal: IWKC alias I Will Kill Chita, Disen Gage, The Grand Astoria sowie auf der Doppel-CD zum Psych-Fest vor einigen Jahren zwei Dutzend weiterer höchst beeindruckender Bands. Wer es nicht physisch erwerben möchte, hat auf der Bandcamp-Seite des Labels beste Gelegenheit zum Download.
Psych-Fest
Volume One (2016)
Das ist nicht einfach nur Psych, was das
Psych-Fest hier in zwei Teilen feilbietet. Die beiden Compilations
erfordern sämtliche Aufmerksamkeit, auch ohne Drogennutzung;
ursprünglich begleiteten sie zwei durchgeführte und ein geplantes
Festival und bieten einen beeindruckenden Überblick über eine feine
Szene in Moskau. Schon der Opener „Teatime“ von Les klingt nicht
nach dem, was der Titel suggeriert: Eine einsame Trompete irrlichtert
über reduzierte Experimentalklänge, rhythmuslos generiert von
allerlei Instrumentarium, in seinem Freigeist den modernen Free Jazz
zitierend. Es richtet sich eine Welle auf, die die Idee von Avatgarde
mit sich spült. Erst Atomic Simao leiten als Zweite in die vertraute
Psychedelik über, mit wabernden Gitarren über einem kopfnickendem
Beat. Etwas mehr Melodie wagen Snakecharm, die sich ausufernd ins All
begeben und ihr Instrumentarium in einer Supernova explodieren
lassen. Der Mutter Wolga huldigen hernach Matushka mit einem
Stoner-Track, orientalisch tanzbar psychrocken Atomic Simao in ihrem
zweiten Beitrag, Vice Versa und die Night Collectors jammen sich
einmal um die Sonne, Transnadežnost‘ schießen einen basslastigen
Dampfkessel ins All, Vespero ziehen das Tempo an und verschachteln
ihren Jazzrock, Dröme gniedeln fast zehn Minuten lang
selbstvergessen vor sich hin und Polska Radio One lassen sich zu
anderen Ufern treiben, als einzige mit erkennbarer, aber nicht
verständlicher Stimme. Allen Beiträgen liegt Rockmusik zugrunde,
und alle zaubern etwas Abhebendes daraus.
Psych-Fest
Volume Two (2016)
Der zweite Teil lässt sich ebenfalls
Zeit damit, zu erkennbarer Musik zu werden. Dvory bekommen satte 20
Minuten für den Opener, der komplett beat- und konturlos
Ambient-Drone zelebriert. Und wenn man erst mitten in seinem eigenen
Geist steckt, holen einen Pree Tone mit bratzendem Blick auf die
eigenen Schuhe in die Garage. Wenn dann Transnadežnost‘ das Tempo
gedrosselt haben und sich auf den Weg in andere Bewusstseinszustände
befinden, ist insgesamt beinahe eine Dreiviertelstunde vergangen.
Markaria Rho experimentieren anschließend mit Stimme, Fuzz und
gebrochenem Rhythmus, бичкрафт legen eine undefinierbare
Stimme über einen undefinierbar dudelnden Garagenfuzz, Jahroom
drängen mit frickeligem Nachdruck auf die Pilzwiese, Lucidvox
erinnern mit Frauengesang und Flangergitarre sehr an frühe
Batcave-Experimente, das Stück von Ministry Of Flowers könnte
direkt aus den spacigen Sechzigern herüberwehen, Kamni schleppen
sich wieder in die Kifferhöhle und Vice Versa covern authentisch
„Master Of The Universe“ von Hawkwind, mit allem Fuzz und
galoppierendem Ungestüm. Mit diesem Doppel-Album bekommt man einen
vortrefflichen Überblick über die russische Psychedelik-Szene mit
allen Seitenarmen und avantgardistischen Auswüchsen. Schön ist,
dass nicht einmal diese Sammlung Kadavergehorsam propagiert, sondern
den Horizont in allerlei Richtung öffnet.
IWKC
– Hladikarna (2017)
Mit dem „Kastenkampf“ geht es
los, schleppend, doomend, im Grunde in die Irre führend: IWKC,
früher I Will Kill Chita, legen sich nicht auf eine Richtung fest.
Denn im zweiten Song schon geht es mit indisch-orientalischem
Indierock weiter, unerwartet und überraschend, aber überzeugend,
nicht deplaziert wirkend. Die können was, die Moskauer, und
versorgen ihre zumeist instrumentalen Stücke mit allerlei
unberechenbaren Breaks und Veränderungen. Für seinen erdigen,
groovenden Kopfnickerrock holte sich das Quartett einen Riesenschwung
an Gästen ins Studio, bis hin zu einem ganzen Chor. Angereichert mit
bisweilen etwas cheesigem Keyboard, Cello, Tabla und weiteren
Einflüssen aus der Weltmusik, ergibt dieses Album einen fabelhaften,
experimentellen und melodiösen, bisweilen sogar recht harten, nur
kurzzeitig mal schnellen Crossover, dessen Sound an den von
Neunziger-US-Bands erinnert, mit slappendem Bass. Erst zur Mitte
wagen IWKC einen Song mit Gesang, einem ungewöhnlich hohen,
kontrastiert im Refrain von growlenden Shouts. Als zusätzlicher Gast
steuert Nicolas Perrault der Band Wille Zur Macht, mit der IWKC zwei
Split-Alben veröffentlichten, beim abschließenden „Opium des
Volkes“ zum gruseligen Orgelspiel seine Stimme bei. „Hladikarna“
erweitert Horizonte.
IWKC
– Evil Bear Boris (2016)
Kann man gar nicht glauben,
dass „Hladikarna“ nicht nur von der selben Band ist wie „Evil
Bear Boris“, sondern nur lediglich ein Jahr später erschien. Den
metallischen Basssound erkennt man wieder, die partiell überzogenen
Keyboards treten auch hier zutage, die Opulenz treibt hier
orchestrale Blüten, ansonsten ist dieses Album komplett anders als
der Nachfolger. Der Opener „Point Of No Return“ dauert 23 Minuten
und bildet einen Querschnitt durch vermutlich sämtliche auf der Erde
existierenden Musikstile, die man mit zwei Keyboards sowie einem
kleinen Orchester aus Streich- und Blasinstrumenten begleiten kann.
Swing, Klassik, Free Jazz, Rock’n’Roll, Drama, große Emotionen,
Poprock – und was auf dem Album fehlt, ist die Gitarre. Ist das
noch Rockmusik? Und wer sind diese Apocalyptica überhaupt? Und wer
ist Ben Folds? IWKC agieren fern von Chartstauglichkeit und Kitsch,
obwohl sie in Sachen Harmonie und Wohlklang mehr als nur bewandert
sind. Man kann nur staunen, je länger das Album läuft, über die
Brüche in den Tracks, über die filigranen Abstimmungen zwischen den
Instrumenten, über Polyrhythmik und Geradlinigkeit, darüber, wie
satt das Schlagzeug dabei bleibt und wie unterschiedlich die
Stimmungen sind, die das Album erzeugt. Unglaublich! Das Album ist
übrigens benannt nach einem Alias, unter dem die Band 2013 ein Album
und eine EP veröffentlichte, zu einem Zeitpunkt also, als IWKC noch
voll ausgeschrieben I Will Kill Chita hießen.
Disen
Gage – Libertâge (2006)
Ihr zweites Album nahm die
Experimentalbernd Disen Gage aus Moskau komplett live und
improvisiert auf. Wenn das Ergebnis dann so ist wie „Libertâge“,
muss man es mit erheblich versierten Musikern zu tun haben. An
Stücken wie diesen würden andere Bands jahrelang herumkomponieren,
hier siegt Verwegenheit über Bedächtigkeit. Disen Gage erzeugen
keinen Lärm, nur bedächtige Dissonanzen, die Musiker wissen, was
sie tun, reduzieren sich selbst und geben sich gegenseitig Raum. Zu
minimalistischem, später groovendem Schlagzeug entsteht zunächst
leiser Jazzrock, versetzt mit Afrobeat, Reggae, Pop, Synthiepop mit
Spacegitarre, Psychedelic Rock und was dem Quartett sonst so unter
die Finger kommt. Karge Räume voller Stolperfallen und
Überraschungen öffnen sich, Frank Zappa lugt gelegentlich
wohlwollend nickend um die Ecke, mit laufender Spielzeit groovt sich
die Band richtig ein. Gelegentliche willkürlich erscheinende
Passagen nimmt man in Kauf und lässt sich ansonsten vom turbulenten
Strom der Assoziationen hinforttragen.
Disen
Gage – …The Reverse May Be True (2008)
Nur zwei Jahre
später und direkt vor der achtjährigen Pause veröffentlichen Disen
Gage ein komplett durchkomponiertes Album. Federleicht zeigt sich das
Quartett zunächst von einer zugänglichen Seite, mit russischem Ska,
um dann in die vertraute Avantgarde zurückzukehren. Zwischen Frank
Zappa, King Crimson und Mr. Bungle finden Disen Gage ihren eigenen
Weg durch die unendlichen Möglichkeiten, nach eigener Aussage
inspiriert von Claude Debussy, Joseph-Maurice Ravel, John Wetton,
Douglas Adams und Georgi Daneliya. Letzterer ist Regisseur der im
ersten Track zitierten Sci-Fi-Satire „Кин-дза-дза!
(Kin-dsa-dsa!)“ von 1986, in dem von den Planeten Plyuk und Khanud
(bzw. Chanud) die Rede ist. Adams „The Hitchhiker’s Guide To The
Galaxy“ wird im Titel von Track 6 und 9 erwähnt, „To Kill Kenny“
zitiert „South Park“: Die Moskauer reisen durch die weltweite
Popkultur. Die Musik ist mindestens experimentell, fordert heraus,
aber überfordert nicht. Sie hat progressive Seiten, komplexe
Passagen und auch eingängige Strecken. Man hört, sobald etwa
osteuropäische Strukturen zur Anwendung kommen, dass die Band bei
aller Versiertheit und Komponierkunst eine Menge Humor offenbart.
Plötzlich Stille und Kuhglockenklöppeln, unterbrochen von
Gniedelgitarre: Das ist weit weg von herkömmlicher Rockmusik, und
doch mit deren Mitteln eingespielt. Und nicht selten auch einfach nur
schön. Man staunt über die Leichtfüßigkeit, mit der der Band all
dies gelingt, und muss gegen Ende doch feststellen, dass das Ergebnis
unter Umständen anstrengend sein kann. Dennoch: John Wetton hätte
seine Freude gehabt.
The
Grand Astoria – La Belle Epoque (2014)
Eine weitere
ausufernd vielseitige Band aus dem Hause noname/Addicted ist The
Grand Astoria aus St. Petersburg. Forsch voran geht es auf dem
fünften Album „La Belle Epoque“, mit Cowpunk-Indie-Rock’n’Roll.
Zwar ist das Album auf seine Art progressiv, aber nicht im
klassischen Progrock-Sinne, sondern vielmehr experimentell, schneller
auf den Punkt kommend, knackig, unbekümmert, trotzdem mit Raum für
Spielereien und auf jeden Fall dichter am Song. Erst nach einer Weile
schlagen The Grand Astoria wieder den Weg in Richtung Stoner ein,
schlagen tiefergestimmte Gitarren an und geben dem Fuzz mehr Gewicht
– aber nicht durchgehend, die Grundstimmung bleibt gutgelaunt und
songdienlich rockend. Mehrstimmiger Gesang! Siebzigerriffs! Spacige
Flanger! Amtliches Tempo! Gegniedel! Georgel! Heavyness! Und aus
allem: Happiness! Dieses Album macht gute Laune, rockt anspruchsvoll
und ist sowas von tight gespielt, dass man keine Vergleiche findet.
Übrigens veröffentlichte die Band seit dem Erfolgsalbum „The
Mighty Few“, das Davide Pansolin noch auf seinem Label Vincebus
Eruptum auf Vinyl pressen ließ, diverse Musik, oftmals Bootlegs
(„Influenza Arschbacke“), Download-Alben („The Grand Astoria
Meets The Finest Moscow Sound Explorers“) oder Tapes („The
Process Of Weeding Out“). Ach, und das Cover von „La Belle
Epoque“ ist geil, erstellt von Sophia Miroedova, deren Arbeiten
allesamt eindrucksvoll sind – und damit bestens zur Musik von The
Grand Astoria passen.