Von Matthias Bosenick (11.07.2025)
Dieses Album lässt sich nur bedingt unter Jazz einsortieren – vielmehr ließe sich von experimenteller Neo-Klassik sprechen, wie man sie annähernd auch aus den kulturell offeneren Randbereichen der jüngeren Gothic-Szene kennt. Auf ihrem zweiten Solo-Album „A Slender Thread“ rückt die in Berlin arbeitende Belgierin Sophie Tassignon ihre Stimme in den Mittelpunkt, mal als Vehikel für deutsche, englische, russische oder arabische Texte, mal als avantgardistische Chorbegleitung, mal als zusätzliches Instrument. Außer Ambient-Soundscapes sind kaum Instrumente zu hören – erst im letzten Track wird es plötzlich elektronisch. Dieser Bach reißt die Hörerschaft mit.
Denn mit einem Bach beginnt das Album, dem Johann Sebastian nämlich: Dessen „Erbarme dich“ singt Tassignon zur Eröffnung. Zunächst allein, begleitet sie sich bald mehrstimmig, verschachtelt, als sakralen Satzgesang oder so etwas. Bereits hier kramt die Erinnerung einen Vergleich zu Voca Me hervor, dem Vokalensemble um Sigrid Hausen und Michael Popp. Das Stück geht über in den Titeltrack, von wegen dünner Faden: Helle Soundscapes wie aus einem Filmscore leiten die Passage ein, Tassignon singt nun zurückhaltender, und plötzlich dreht sich die Stimmung in Richtung Horror, als unheimliche quiekende Stimmen in den Sound eindringen, nur kurz, aber verunsichernd. Denn schnell geht es wieder vertrauter weiter, man hört Sounds wie aus einer Kirchenorgel oder von Streichern, irgendetwas Verfremdetes, aber Wohlklingendes. Zunächst ohne Gesang, bietet Tassignon bald „Molitva“ dar, „Молитва“, „Gebet“, von Булат Шалвович Окуджава (Bulat Schalwowitsch Okudschawa). Diese Sequenz klingt fast wie Folklore, bis die spooky Quiekgeräusche zurückkehren und Kate Bush dazu verschmitzt lächelt. Diese drei Stücke fasst Tassignon als achtzehnminütige Einheit auf.
Mehr Folklore und mehr Russisch bekommt man mit „Chornij Voran“, „Чёрный Ворон“, „Schwarzer Rabe“, einem Volkslied, das Tassignon zu einer diffus verfremdeten Gitarre darbietet. Für diese Sounds sowie für den letzten Track holte sie sich Unterstützung dazu, nämlich Kevin Patton aus Washington D.C., der nicht zum ersten Mal mit ihr arbeitet, etwa in dem Projekt Louise et Vilmorin. Tassignon beendet das Stück, um es mit Morten Harket zu sagen, on a high note und bricht damit einmalig energetisch aus ihrer zumeist mittleren Stimmlage aus, sofern sie nicht als eigene Begleitung eher hintergründig auch mal höher singt. Dabei fällt auf, dass Tassignon ihre Stimme zwar abenteuerlich verwendet, sie aber sowohl in Stimmlage als auch in Darbietung nie nervig oder anstrengend wird. Fans von Diamanda Galás dürften da eventuell enttäuscht sein.
Der dritte Track ist zweigeteilt und führt von Russland nach Arabien: „Marhaba“ von der Dichterin Ousha bint Khalifa Al Suwaidi (عوشه بنت خليفة السويدي) aus Abu Dhabi startet beinahe wie eine Pianoballade, stellt also im Verlauf dieses Albums eine Besonderheit dar, obschon Tassignon auch hier ihrem eigenen Gesangsstil treu bleibt. Der Song geht nach einer Lücke über in „Yellow Leaves“, „وراق الصفر“, von Hicham Nasr (هشام نصر), bei dem es sich möglicherweise um einen Yoga-Lehrer handelt, das ist nicht so richtig klar; jedenfalls verarbeitete Tassignon bereits ein Lied von ihm auf ihrem Solo-Debüt „Khyal“. Diese Passage beginnt sie mit Ambient-Soundscapes, bevor sie den Text singt.
Der vierte und letzte Track „The Soldier In You“ stellt plötzlich eine Unvorhergesehenheit dar: Tassignons Gesang ist unterlegt mit dezentem Electro, nahe an IDM, zudem setzt sie ihre Stimme neben dem abermals recht sakralen Haupt-Gesang experimentell ein, wie ein zusätzliches Instrument. Diese Kombination lässt erneut an Sigrid Hausen und Michael Popp denken; deren Projekt Qntal geht in eine vergleichbare Richtung. Das Neuprojekt Helium Vola des Qntal-Mitgründers Ernst Horn sei hier ebenfalls als Referenz aufgeführt.
Musik macht Tassignon seit ihrer Kindheit, Alben liegen seit gut 20 Jahren vor. Die nahm sie in Zweier- oder Ensemble-Konstellationen auf, weshalb „A Slender Thread“ eben nach „Mysteries Unfold“ aus dem Jahr 2020 erst als ihr zweites Solo-Album gilt. Was etwas merkwürdig ist, schließlich existieren noch das Mini-Album „Licht-Raum-Erkundungen“ aus dem Jahr 2017 sowie das bereits erwähnte „Khyal“ aus dem Jahr 2023.