Von Matthias Bosenick (20.01.2012)
Alles in allem ist dieses Doppel-Live-Album eine echte Überraschung, eine positive gar. Zum einen bringt die Band die noch in den 90ern verhassten Songs der verleugneten ersten fünf (eigentlich vier und zwei halbe) Alben auf die Bühne, zum anderen zeigt das nachgeschobene Live-Dokument, wie ausgesprochen gut es den Schotten gelang, sich in die alten geilen monoton-elektronischen Songs hineinzufühlen – mit mehr Gitarre. Und: Das vorherige Live-Album „Live 2011“ hatte nicht die Hälfte der hier nachspürbaren Intensität, die Band hat wieder Bock.
Nach diversen Demos 1977 und 1978 erschienen 1979 das reichlich Punk-inspirierte „Life In A Day“ und das bereits deutlich synthetischere „Real To Real Cacophony“. Die zuvorderst elektronische, monotone, düstere Stimmung dieses Albums behielten die Simple Minds auch 1980 auf „Empires And Dance“ sowie 1981 auf den zwei gleichzeitig erschienenen Mini-Alben „Sons And Fascination“ und „Sister Feelings Call“ bei. Erst auf „New Gold Dream (81*82*83*84)“ kehrten vermehrt Gitarren und melodiösere Songstrukturen zurück, das Album bereitete die Hörerschaft auf die folgende und erfolgreiche Stadionrock-Hochzeit der Band vor. Die früheren fantastischen Stücke erfüllen nicht den Aspekt der Radiotauglichkeit, streckenweise haben sie kaum Melodien, oft bestehen sie aus monotonen Wiederholungen, aus düsteren Atmosphären. Auch erkennt man Jim Kerrs Stimme bisweilen kaum, wenn er sie eher wie ein Instrument einsetzt. Hochbrillante vierzweihalbe Alben sind das also.
Aus diesen Alben nun bedienten sich die Simple Minds bei ihrer 2012er-Tour. Man hört also 30 Jahre alte Lieder aus der Sicht der heutigen Simple Minds. Das klingt belangloser, als es ist; zuletzt hatten die Schotten nicht nur viele ihrer Bandmitglieder und ihre Chartserfolge verloren, sondern auch etwas ihren Biss. Übrig bleibt auf der neuen Live-Doppel-CD davon, dass Jim Kerr die alten Lieder so singt, wie er heute singt, also weniger anonym, mit mehr Inbrunst und Seele. Die elektronischen Sounds sind zum Teil sehr originalgetreu und außerdem um Neues erweitert, aber weder zeitgeistig noch kitschig, gespielt von Andy Gillespie. Signifikant und akzentuiert ist der Bass-Sound, mit dem Ged Grimes die Songs mehr als nur unterfüttert. Mel Gaynors Schlagzeug ist punktgenau. Und Charlie Burchill, neben Kerr als einziger der aktuellen Live-Besetzung auch schon auf dem Debüt-Album dabei, spielt eine für Simple-Minds-Verhältnisse ungewohnt krasse, radikale Gitarre, und das – da kommt dann der Unterschied zu den Studioversionen zutage – auch an Stellen, an denen im Original keine oder deutlich dezentere Gitarren erklingen. Alles in allem ist der Sound enorm fett und bissig, wie seit langem nicht mehr. Seltsam, wo doch die Besetzung dieselbe ist wie auf dem viel schwachbrüstigeren „Live 2011“.
Jetzt sollten die fünf das, was sie zurzeit live auf die Bühne bringen, bitte in Seele und Herz behalten. Denn für 2013 kündigen sie ein neues Studioalbum an. Die letzten waren zwar auch gut, aber man freut sich ja, wen es mal wieder sehr gut wird.