Sendelica – The Complete Mankind – Fruits De Mer Records 2025

Von Matthias Bosenick (09.04.2025)

Vom Neanderthaler bis zum Tod: Die Entwicklung der Menschheit bis hin in die Unendlichkeit steht als Thema über den vier Teilen der „Mankind“-Trilogie, die das progressive Psychedelic-Space-Kraut-Rock-Trio Sendelica aus Wales in den zurückliegenden vier Jahren auf vier Doppel-LPs bearbeitete. Für CD-Sammler gibt’s jetzt die Variante als Box mit acht CDs, nämlich die vier Alben plus je einer Ergänzungs-Compilation mit Outtakes, Mixes, Demos und Alternativversionen. Macht neuneinviertel Stunden Abtauchen, von der Ursuppe ins All.

Zuerst die harten Fakten: „The Complete Mankind“ bietet 9:15 Stunden Musik in 51 Tracks, der kürzeste, „120 BPM Riff Idea Two“, dauert 0:42 Minuten, „Cosmic Slop (In The Beginning) Let There Be Light“ als längster 22:56 Minuten, die Durchschnittslänge liegt bei gut zehn Minuten. Die Original-Doppel-LPs waren „And Man Created God“ (2021), „One Man’s Man“ (2022), „Man, Myth And Magic“ (2023) sowie als vierter Teil der ursprünglichen Trilogie „Requiem For Mankind“ (2024), letzteres bereits bei KrautNick besprochen und jedes mit einer unterscheidbaren musikalischen Grundausrichtung. Mit acht CDs ist diese Box noch üppiger als „The Compleat Chromlech Chronicles“, die 2020 die vier „Chromlech Chronicles“ plus einem Live-Album und einem Bonus-Album sowie vereinzelten Bonus-Tracks auf den jeweiligen Alben vereinten. Inhaltlich befasste sich die Band bei der „Mankind“-Reihe nun mit Religionen, konkreter den Parallelen zwischen Sumerern und der Bibel und somit der Herkunft des Menschen und dessen möglichem Verbleib.

Ein weiterer harter Fakt ist, dass es auf den vier Original-Alben keine kompakten Tracks gibt, die man mal eben ins Radioprogramm streuen könnte, obwohl manche von ihnen kompositorisch und strukturell das Zeug dazu hätten, insbesondere diejenigen mit dem größeren Achtziger-Artrock-Sound. Heißt: Unter sechs Minuten dauert keiner der Album-Tracks, denn in denen verliert sich die Band aufs Epischste, wie es sich für diese Richtung gehört. Dabei hat die Band nicht nur keine Angst vor Synthies, sondern setzt sie mit Vorliebe charakteristisch ein, bisweilen sogar Samples, Field Recordings oder Scratches, etwa in „Homo Erectus“. Außerdem lässt das Trio neben Gitarre, Bass und Schlagzeug auch Gäste ins Studio, die ihr Saxophon oder ihr Cello gewinnbringend einbringen. Texte gibt es keine, Stimmen hingegen schon, in ausgewählten Stücken. Manche der Alternativmixe verleihen den Originalen einen Zugewinn, andere gar eine völlig neue Dimension; noch ein Fakt ist, dass diese Sammlung die angenehm berauschende Kontemplationszeit verdoppelt.

Der Beginn der Menschheit verläuft nicht ganz reibungslos: Im Intro knarzt „Aeolian Sunrise“ gewaltig, erst dann startet das Stück mit orientalischen Percussions und Drones. So wechselvoll wie die Geschichte der Menschheit ist auch die Musik, die man ab jetzt vor sich hat. Verteilt auf die Tracks bedienen sich Sendelica diverser Vorgehensweisen: Manche Tracks scheinen auf Wiederholung zu basieren, auf einer Art Loop, über die sich die eigentliche Musik legt wie eine Kuscheldecke. Andere erscheinen wie durchgespielte epische Tracks, in denen sich die Musizierenden so verlieren, wie es die Hörenden dann ebenfalls vollführen. Manche tragen eine Pink-Floyd-Taubheit in sich, manche eine Neil-Young-Gniedel-Versunkenheit, etwa „MMT“, das ohnehin sehr an „Like A Hurricane“ erinnert, ebenso die Skizze „120 BPM Riff Idea One“.

Jenes Stück gehört mit dem eingebauten Saxophon in der Bonus-Sektion auch zu denen mit ordentlich Mehrwert, nebenbei. Ebenso „Surging Forde“, das mit seinen Electro-Effekten an Kraftwerk erinnert, oder manche Demos zum zweiten und vierten Album, die zum Drumcomputer entstanden. Synthies spielen ja ohnehin eine nicht unwichtige Rolle bei Sendelica, so kann einer auch mal nach Marillion klingen oder wie im Intro zu „Illuminated Skies“ nach Foreigner. Dafür hat der Basslauf in jenem Track etwas von der NWoBHM, ohne dass die Band jemals in Richtung Metal geht, obschon das zweite Album recht rockig ausfällt. „Homo Rudolfenis“ etwa möchte zwischen „Silver Machine“ von Hawkwind und „Born To Be Wild“ von Steppenwolf einsortiert werden. Mit der Gitarre lässt sich ja auch Anderes anstellen: Man kann mit ihr gniedeln, sie durch den Wahwah jagen, sie wie in „The Seekers“ nach Walgesang klingen lassen, sie als dronige Fläche einsetzen, mit ihr wie in „Tower Of Chaos“ abstrakt-avantgardistisch herumexperimentieren, oder sie als Ergänzung zu dem Groove sehen, den Bass und Schlagzeug bisweilen errichten. Nicht nur Groove, auch mal eine weite Strecke, wie auf der dritten, dem Krautrock nahen Platte, auf der die typischen Düsseldorfer stoischen Beats voranschreiten. Oder auch mal aussetzen, wie in „Epilogue Sunset“ oder dem „Original Pete ‚Yeti‘ Mix“ von „Homo Erectus“, die lediglich der Sägegitarre und einem blubbernden Synthie Raum bieten.

Synthiegenerierter Ambient – in „Magician Dawn“ sogar in Richtung Neo-Klassik gehend – ist ohnehin ein regelmäßiger Bestandteil der Sendelica-Musik, nicht nur im Bonus-Teil des zweiten Albums, denn irgendwie muss die Mucke ja spacig werden, wenn man nicht gerade Gitarren exzessiv verfremdet. Hall und Echo dürfen auch mal zum Einsatz kommen, das ätherische Saxophon hat seinen zusätzlichen Anteil am Entrückten, im energetischen „Wheel Of Fortune“ darf es sogar kakophonisch werden. So entsteht einerseits eine unfassbare Schönheit, andererseits auch pure Psychedelik oder abstrakter, jazziger Rock, also Musik zwischen verstiegen und verstrahlt, harmonisch und goovend, und das zum Teil sogar innerhalb der schier unendlich langen Tracks. Auch etwas flotter darf‘s mal werden, „Homo Sapien“ etwa ist eine Art Speed-Chill-Out.

Den Kern der Band Sendelica bildet ein Trio: Peter Bingham spielt alle erdenklichen Gitarren sowie Synthies und Sampler, Colin Consterdine übernimmt Schlagzeug und Electro-Anteile und Glenda Pescado den Bass. So oft, wie das Saxophon hier wesentliche Anteile einnimmt, könnte man Lee Relfe als viertes Bandmitglied auffassen; dieser umtriebige Mensch spielte auch mal bei den Italienern Da Captain Trips das Sax. Ab dem zweiten Doppelalbum ist Santtu Laakso mit Moogs und anderen Synthies wiederkehrender Gast. Rhiannon Jones trägt Cello bei, Stimmen gibt’s von Elfin Bow alias Elizabeth Anne Jones und jemandem namens Calli, alles jeweils einmalig, obschon letztere zweimal auftaucht, weil das verzückende „Calli Vocal Demo“ ihres Songs „Requiem for The Planet“ als Bonus enthalten ist.

Bei dem Ausstoß, den die Musizierenden bereits als Sendelica haben, wundert es, dass sie alle noch in unendlichen anderen Projekten arbeiten. Am kuriosesten dürfte A.B.B.A. sein – unter diesem Namen covern sie Gruftklassiker in psychedelisch. Passt ja, schließlich spielten sie ja aus der gleichen Zeit als Sendelica schon mal „I Feel Love“ von Donna Summer neu ein. Einen weiten Horizont muss man nur haben, und den hört man dieser „Mankind“-Box unbestreitbar an.