Von Matthias Bosenick (05.07.2015)
„Schimmel über Berlin“ ist eine seltsame Anthologie. Sie gibt im Klappentext vor, eine von mehreren Autoren abgefasste Abhandlung mit alternativen Blicken auf das immerwährende Hypethema Berlin zu sein, doch wer das Buch deswegen kauft, wird enttäuscht, denn es stimmt nicht. Es sind haufenweise Beiträge ohne Berlinbezug dazwischen, und wo etwa in Interviews auch mal Berlin angesprochen wird, geschieht dies nur unter ferner liefen. Man tut sich vielmehr einen Gefallen damit, das Buch nicht wegen Berlin zu erwerben (oder auch, für diejenigen, denen Berlin als Thema einfach mal geflissentlich auf den Sack geht, trotz Berlin), sondern um seiner selbst willen, und dann bietet es dem Leser eine überraschende Bandbreite an Prosa, Lyrik, Meinungen und Kunst an; auch qualitativ ist die Bandbreite groß: Nicht alles gefällt, aber das Gefallende ist dann wiederum besonders gut. In der Tat: ein schräger Mix.
Das Vorwort verrät, dass die Herausgeber zwischen 1999 und 2004 ein Magazin namens „LIBUS“ betrieben und dass „Schimmel über Berlin“ dazu eine Art Analogie darstellen soll, aber kein Best-Of. Woher die Beiträge nun kommen und warum trotzdem so viele alte Texte darunter sind, verschweigt man jedoch. Einige LIBUS-Macher erläutern in Gestalt eines eingestreuten Beitragstextes ihre Motivation, sich bei dem Magazin eingebracht zu haben, dies aber oftmals so verschwurbelt, dass man die Beweggründe trotzdem nicht nachvollziehen kann. Bleibt das Fazit, dass man als Leser auch ohne klare Erläuterungen für das auskommen muss, was man da grad in den Händen hält.
Und das ist also ein Magazin in Buchform. Also schon mal für sich gesehen eine gute Idee. Als Lockmittel sind Interviews mit klug ausgewählten Prominenten quer über die 300 Seiten verstreut, die bis auf eines alle Ronald R. Klein führte; einzig mit Jonathan Meese sprach Kerstin Roose. Klein interviewte eine repräsentative Auswahl an ernstzunehmenden Künstlern und vermied es, sich mit Glitzersternchen zu behaften; er sprach etwa mit Iggy Pop und Dieter Meier, Laibach und Anne Clark, Christoph Schlingensief und Wolfgang Joop, Ellen Alien und Johan Edlund. Diese Gespräche sind in jeder Hinsicht aufschlussreich: Einige Gesprächspartner lassen sich auf einen vergnüglichen Talk ein, dem man mit Freude folgt. Andere hingegen übernehmen die hochgestochene, oft viel zu intellektuelle Sprechweise des Interviewers und bleiben in ihrer Sachlichkeit unkonkret und so narzisstisch wie der Fragesteller, dass man sich darüber wundert, wie die Beteiligten dies als Gespräch aufgefasst haben konnten. Manchmal erzeugt dies den Eindruck, als hätte es zwischen ihnen gar keine konkreten Themen gegeben.
Drumherum platzierten die Herausgeber literarische Arbeiten. Mit deren Qualität verhält es sich ebenso wie mit denen der Interviews. Manches ist – mit Verlaub – Egowichse, anderes Lesefutter mit Aussage, Sprachwitz, Kritik oder sonstigem Einfallsreichtum. Björn Kuhligks „Den Job bekommst du!“ ist ein lakonischer Hybrid aus Literatur und Reportage über den Job als Zeitungszusteller. Überspitzt satirisch geht jemand namens alic borNa in „Klinik XIV: Der Durst“ an den Kater danach heran. Melancholisch-zynisch geht Thorsten Schulz in „Drei Geburtstage“ mit den Altlasten der deutschen Geschichte um. Die Adoleszenz einer Außenseiterin beschreibt Yvonne Kaeding in „Fluchtwege“ reflektiert und selbstanalytisch. Ebenso offen beschreibt Nicole Hahn in „Der Brief“ die Probleme, die sie mit psychischen Problemen im Gesundheitssystem und in der Gesellschaft sieht. In feinster „Bolle“-Manier reimt Gerda Arndt-Komalek in „Eilig – Ein Schicksalswort“ über Zeitnot; einer der wenigen wahrhaft humoristischen Beiträge, übrigens.
Dem entgegen stehen bestenfalls mahnende Zeigefinger („Der Unfall“ von Titus Müller), meistens aber Experimente, denen man nur schwer folgen kann oder gar nicht folgen mag. Muss es auch geben, umso deutlicher stechen die Beiträge hervor, die man mag. Außerdem steuert Friederike Ablang so genannte Visual Art bei, die sich von Kunst allgemein nicht signifikant dadurch unterscheidet, dass man sie sehen kann, was den Begriff etwas rätselhaft macht; ihre Grafiken sind hübsch, fantasievoll, farbenfroh, freundlich, verspielt, verträumt; ihre Fotoreihe „Der Stuhl“ stellt einen weiteren raren, aber sehr schwarzen Humorpunkt dar. Die weiteren Fotos in dem Buch sind vorrangig einfach mal da.
Berlin nun, diese Stadt, die jemand mal rund um einen Club namens Berghain errichtete, von der alle bundesdeutschen Trends ausgehen und wo man einzig relevante Kultur produziert, wo in den 70ern bis 90ern international relevante Künstler von Legenden umrankte international relevante Kunst fabrizierten, Berlin also, das taucht nur nebenbei auf. Immer wieder mal versuchen die Herausgeber, die Stadt zu platzieren, aber sie ist mehr Beiwerk als Zentrum. Ehrlich: Das ist auch gut so. „Es gibt mehr wie Tennis auf der Welt“, um es mal mit Boris Becker zu sagen, und dieses vermeintliche Berlin-Buch belegt dies. Und der Titel, selbstverständlich angelehnt an den des Films „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders, stellt damit gottlob eher Kaufargument als Inhaltsbeschreibung dar.
Wie mit jedem guten Sampler, ist es auch mit diesem Buch: Man entdeckt neue Autoren und Künstler, bekommt Einblicke in fremde Gedankenwelten, erweitert seinen Horizont, stößt an seine Grenzen, findet seinen eigenen Standpunkt. Die Vielfalt hat etwas latent Willkürliches, dafür aber auch einen enorm weiten Horizont.