Von Matthias Bosenick (31.05.2019)
Hier gewinnt der Inhalt über die Form: Verglichen insbesondere mit Sebastian Schippers vorherigem Film „Victoria“ besticht „Roads“ mit der Geschichte, die er erzählt, und dies in eher konventionellen Bildern. Aber die Handlung fesselt: Ausgehend von zwei Familiendramen, handelt „Roads“ Adoleszenz, Flüchtlingsschicksale, Europa und Antirassismus gekonnt miteinander verwoben ab. Zwei Teenager aus verschiedenen Kulturkreisen suchen Angehörige und überwinden dabei nicht nur geographische Grenzen. Und The Notwist besorgen den chilligen Soundtrack dazu.
Für
den englischen Achtzehnjährigen Gyllan stellt sich die Frage gar
nicht, ob der dunkelhäutige William ein Flüchtling ist oder nicht.
William hilft Gyllan in Marokko aus einer misslichen Lage, indem er
das von Gyllans Stiefvater geklaute Wohnmobil zu bewegen weiß, und
bekommt damit ein Ticket nach Europa kredenzt. Gemeinsam lösen sie
ihre sich dabei ergebenden Probleme unkonventionell und geraten
dadurch in nicht minder unkonventionelle neue Probleme. Die
gesellschaftlichen Unterschiede der beiden sind dabei gar nicht so
groß, schon ihre erste Begegnung stellt außer Frage, dass sie
Freunde sein könnten, was sie schließlich auch sind, doch die
vermeintlich ähnlichen familiären Hintergründe entpuppen sich bald
als mindestens gesellschaftlich begründet recht unterschiedlich, um
letztlich persönlich gesehen doch wieder auf Vergleichbares
hinauszulaufen. Drehpunkt ist die Szene, in der beide sich
gegenseitig bitten, die Augen erst zu öffnen, wen der andere ein
Wort gesagt hat – und jeder sagt Dinge, als die das Gegenüber ihn
sehen sollte: William Gyllan als „weißen Rassisten“ oder
„Mitglied einer Boyband“, umgekehrt Gyllan William als „ersten
Schwarzen auf dem Mond“ oder „Jesus“.
Den äußeren
Einflüssen sind sie beide ausgeliefert, schließlich sind sie
gemeinsam im geklauten Wohnmobil illegal von Marokko über Spanien
nach Nordfrankreich unterwegs. Ihre erste gesuchte Vertrauensperson
erweist sich trotz vollzogener Hilfe als Arschloch, in der
französischen Provinz kann man als Engländer und Kongolese schon
mal fremdenfeindliche Ressentiments auf sich ziehen, die gesuchten
Angehörigen entpuppen sich für beide jeweils als unterschiedliche
Enttäuschung – und jeder zieht seine eigenen Konsequenzen aus dem
gemeinsam Erlebten.
Dabei sieht das Drehbuch zwar –
neben kleinen Episoden übers Kiffen – die erwartbaren brenzligen
und bedrohlichen Situationen vor, doch lässt es die beiden jungen
Helden relativ ungeschoren davonkommen. Tiefgreifend sind die
Erfahrungen dennoch für beide, und insbesondere für den jungen
Engländer bedeuten sie einen eklatanten und erfreulichen
Richtungswechsel. Was nicht bedeutet, dass einer von beiden
unsympathisch gewesen wäre, aber Gyllan offenbart gelegentlich
egomanische Züge, deren familiär begründete Herkunft er später
aber plausibel macht. Man rückt beiden Charakteren zusehends immer
näher und schließt sie ungefähr so sehr in sein Herz wie sie sich
gegenseitig.
„Roads“ verdeutlicht, dass es im Bösen
das Gute gibt und im Guten auch das Böse, in politischen
Schlagzeilen Menschen, vorurteilsfreie Zuneigung, Hoffnung für die
Jugend, Altruismus inmitten der Egozentrik, und dass es nicht wehtut,
Fremden zu helfen. Der Film ist ein Appell an die Mitmenschlichkeit.
Trotz ihrer Jugendlichkeit wirken beide Figuren zumeist älter, als
sie sein sollten, was die Identifikation für ältere Zuschauer umso
deutlicher leicht macht.
Filmisch verzichtet Schipper auf
die Experimente, mit denen er noch via „Victoria“ für Aufsehen
sorgte, vergisst aber seine Handschrift nicht. In langen
Einstellungen folgt seine Kamera der Straße und beobachtet seine
Figuren, doch bleiben diese Bilder eher konventionell und sind nicht
der Hauptgrund, für diesen Film ins Kino zu gehen. Den Erzählfluss
begleiten sie perfekt, das hat Schipper gut in der Hand, und mit der
dezenten elektronischen Musik der soundtrackerprobten The Notwist
verhält es sich ebenso. Ach ja: Moritz Bleibtreu folgt seinem
Nachnamen und spielt überzeugend eine vertraute durchgeknallte
Figur.