Von Matthias Bosenick (23.07.2025)
„Strange Kind Of Paradise“ ist Chris Reeds Vermächtnis zu Lebzeiten: Der Sänger, Gitarrist und Bandkopf von Red Lorry Yellow Lorry aus Leeds ist schwer krank, heißt es, hatte aber noch dieses finale Album in der Pipeline, über 30 Jahre nach dem Vorgänger „Blasting Off“. Den charakteristischen Darkwave-Drumcomputer tauschten die Engländer gegen einen echten Drummer aus, um den Schwerpunkt zu verlagern: Zum Gothic Rock fühlten sie sich nicht zugeordnet, sagen sie, sondern mehr dem Rock’n’Roll. Stattgegeben, das Album rockt auch mit Electro-Elementen, ist aber trotzdem nicht frei von Dunkelheit, Melancholie und Wehmut. Was Wunder. Auf diese Weise rücken die Lorries musikalisch sogar näher an Chris Reeds Solo-Aktivitäten Unit und Woof!.
Die durchdringende Brummelstimme von Chris Reed passt natürlich schon ganz gut zum Gothic Rock, da beißt die Maus keinen Faden ab. Auch wenn die Band im Interview sagt, dass dies bereits der Name widerlegt, andernfalls lautete der nämlich Sex Lorry Death Lorry. Gelegentliche fröhliche, motivierende und euphorisierende Melodien finden sich im klassischen Gothic Rock ebenfalls, The Mission wären da ein anschauliches Beispiel für; solche Stimmungen treten hier zwar auf, dominieren aber nicht. So richtig düster ist „Strange Kind Of Paradise“ indes ebenso wenig gehalten, unterhalb einer wehmütigen Melancholie bewegen sich die Emotionen nicht. Dabei hätten sie allen Grund dazu, nicht nur angesichts der Weltlage, sondern auch Reeds Zustand, über den aber niemand ein konkretes Wort verliert.
Viele Jahre lang arbeiteten die Lorries an diesem Album, die Ursprünge liegen im Jahr 2004, und die andernorts als Unterbrechung aufgefasste Corona-Zeit unterstütze die Prozesse sogar noch, lässt die Band wissen. Kern sind neben Reed Gitarrist David „Wolfie“ Wolfenden sowie Bassist und Keyboarder Simon „Ding“ Archer, die Reeds Songs während der Coronazeit einspielten und ausarbeiteten und mit seinem Einverständnis Martin Henderson, bekannt von Skeletal Family, The Mekons und The Quireboys, anstelle des Drumcomputers hinter ein echtes Schlagzeug setzten. Was hörbar die Dynamik der Songs erhöht, „Strange Kind Of Paradise“ als zusätzliches Argument vom Vorwurf der Selbstkopie befreit und die Lorries weiter von The Sisters Of Mercy wegrückt.
Mit einem ausgekotzten „Whoa!“ und einer Sägegitarre beginnen Album und Titeltrack, eine Uptempo-Boogie-Rocknummer mit lebendig melodisierender E-Gitarre, stampfenden Beats und dezenten Electro-Momenten. „Chicken Feed“ trägt im Refrain Gene von „Born To Be Wild“ von Steppenwolf in sich und befeuert den marschierenden Rhythmus mit einem Shaker. Dafür beginnt „As Long As We Were Breathing“ mit der Stimmung von „Hotel California“ von den Eagles, aber nur kurz. Die E-Gitarre bekommt in dieser Ballade einen knorrigen Fuzz und Reed singt bisweilen höher und klarer als sonst. Das meistens nicht nur unterschwellig Hymnische seiner Lieder dringt hier noch stärker zutage.
„Walking On Air“ ist wieder so ein Boogie-Rocker, im Dreivierteltakt und mit eingängigem Refrain, nach dessen verklingendem Gesang die Band stampfend rockt, als hieße der Sänger Neil Young. „Killing Time“ hat nichts mit Anne Clark zu tun, sondern rockt im Midtempo, inklusive irisch anmutenden Drums, die den Refrain anreichern und an New Model Army denken lassen. Hier lässt sich die Akustikgitarre deutlich vernehmen. Auf die Eins kloppt im Intro das von der Vorab-EP bekannte „Driving Black“ und geht dann als gut gefütterter Rocker weiter. Die Einser-Schläge kehren für nach den Refrains zurück, dieser Song transportiert bisher die stärkste Energie. So verfährt auch Kumpel Kirk Brandon auf den neueren Alben seiner Bands Theatre Of Hate und Spear Of Destiny häufig.
Auch die Pop-Hymne „Shooting Stars Only“ behält die Einser bei, drängt den Waverock dieses ermunternden Songs aber in eine andere Richtung, leicht in die, die The Cure mit „Friday I’m In Love“ deutlich übertrieben. Für „Many Trapped Tears“ sind die Gitarren wieder tiefergelegt, obgleich der Song etwas Folkiges hat. Eine kurze Passage mit Industrial und Fuzz deutet zaghaft in die eigene musikalische Geschichte zurück. Das Intro zu „The Only Language“ zieht das Tempo wieder an, es geht punkig auf die Eins, wird dann aber zu einem riffigen Kopfnicker. Auch hier baut die Band das Schnelle hin und wieder erneut in den Song ein, ebenso einen leicht psychedelischen Kurztrip mit der Silbermaschine. Auch der Rauswerfer „Worlds Collide“ hat etwas Psychedelisches, sogar durchgehend, mit dem vibrierenden Gitarreneffekt auf dem gebremsten und folkig ausrollenden Rocksong.
Ja, und das war’s dann. „Strange Kind Of Paradise“ ist keine Offenbarung, auch wenn es das letzte Kapitel der Lorries darstellt. Große Experimente findet man hier nicht, Unerwartetes ebenso kaum, das Album ist vielmehr solide, birgt viele schöne Details und überzeugt mit seinen eingängigen Songs, die man bereitwillig ins Herz schließt. Es tut gut, Chris Reed nach all der Zeit und trotz allem singen zu hören.
Drei der vier „Black Tracks“, die Reed 2004 quasi im Alleingang einspielte, sind auf dem Album als Bandsongs zu hören, lediglich „I Need Time“ fehlt. 21 Jahre also, die in diesem prämortalen Requiem stecken. Mit seinem Solo-Projekt Chris Reed Unit brachte er noch 2005 sein einziges Album „Minimal Animal“ heraus, auf dem er „Worlds Collide“ bereits verarbeitete. Selbst dafür hatte Reed mehr als zehn Jahre gebraucht, denn bis dahin galt sein 1994 gestartetes und beendetes Projekt Chris Reed’s Woof! mit dem Album „Birthday Skin“ und der EP „Woof!“ als seine letzte Veröffentlichung, zwei Jahre nach dem letzten Album der Lorries. Die „Red Lorry Yellow Lorry EP“ spielte die Band 2015 bereits mit Henderson am Schlagzeug ein; deren Exklusivstücke finden sich auf der EP „Driving Black“ aus dem vergangenen Jahr wieder.
„Strange Kind Of Paradise“ beschmutzt den exquisiten Ruf der Lorries nicht. Es ist eine solide Platte, die Bock macht zu hören und die der mehr als vierzigjährigen Geschichte der Band einen würdevollen Schlusspunkt setzt.