Real – Avalon – Nagelwork/Real-Musik 2020

Von Matthias Bosenick (14.07.2020)

Das erste öffentliche musikalische Lebenszeichen von Jens Nagel seit dem Aus von Phase V: Unter dem schwer zu googelnden Projektnamen Real veröffentlicht der Wolfenbütteler sein Debütalbum und gibt damit seinen Einstand in einer ganz anderen Ecke. Von Hip Hop oder Crossover ist auf „Avalon“ nicht mehr zu hören, stattdessen konzentriert sich der Keyboarder und Sänger auf trockenen Synthiepop, frickeligen Wave und dunklen Electro – mit einer unüberblickbaren Menge an weiteren Genreausflügen, darunter Acid House und Breakbeat. Geblieben sind die deutschsprachigen Texte, ansonsten klingt Phase V in Real nicht weiter nach.

Es ist also eine Emanzipation, für die Nagel einen riesenlangen Anlauf nahm. Zunächst wirken die deutschen Texte etwas befremdlich, zu sehr klingen in der Vortragsweise Rammstein oder vergleichbare Unternehmungen an, die mit ihrer Plakativität eher abschrecken als aufhorchen lassen. „Wollt ihr mehr sehn“, fragt Nagel seine Hörerschaft zum Einstand direkt, und auch wenn das Skandieren an Rap erinnern mag, klingt der Track vielmehr nach EBM alter Schule, an Nitzer Ebb und vielleicht eine energetischere Variante von DAF. Und ja, alsbald ist man überzeugt: Man will mehr sehn, besser: hörn.

Das Etikett Synthiepop greift auf diesem Album auch bei den weiteren Songs zu kurz. Dafür setzt Nagel die Synthies nicht flächig genug ein, sondern trockener, reduzierter, akzentuierter. Auch wenn die Rhythmen tanzbar bleiben, genügt selbst das Etikett EBM nicht mehr, und wenn „Avalon“ wirklich als Pop durchgeht, bedeutet das eine erhebliche Horizonterweiterung für den Mainstream, denn vom schlichten Gedudel ist Real weit entfernt, ebenso vom Schlager, da ändern auch deutsche Texte nichts. Es gibt dem House angelehnte karge Songs und Minimalelectro, gelegentlich mit den repetetiven Analogpatterns angenehm an Achtziger-Acid gemahnend, es gibt eine Erinnerung an Neunziger-Breakbeats, es gibt überraschend Rocksongstrukturen, dunklen Ambient und kalte Atmosphäre, lokal vielleicht mit dem Electropop von Peter Glantz vergleichbar. Seine Beats hält Nagel selten gerade, auch mit nervösen Hintergrundeffekten reichert er seine Tracks an und macht damit eine eindeutige Genrezuordnung angenehm unmöglich.

Und dazu immer Nagels fordernde, dringliche, beschwörende Stimme. Seine Texte sind nicht eindeutig, der Poet äußert seine Gedanken und Betrachtungen indirekt, verschlüsselt, und wählt dafür Bilder, mit denen er die Hörer zunächst verwirrt; man kann darin schwarzen Humor entdecken. Damit hat man an diesem Album doppelt zu arbeiten, da man neben der herausfordernden Musik auch noch doppelbödige Texte zu entschlüsseln hat. Und was er selbst nicht in Worte fasst, lässt er Franz Kafka übernehmen: Der achtminütige Rauswerfer „Nachts“ ist eine Rezitation der nämlichen Geschichte. Sein Vortrag variiert auf diesem Album zudem: Mal spricht er beinahe theatralisch wie Oswald Henke, mal zurückgenommen wispernd, mal singt er auch und mal skandiert er mit sich selbst im Duett. An manchen Stellen vielleicht etwas zu weit im Vordergrund, da ist dann die Musik selbst zu reduziert, um dieses Direkte abzufedern.

Was auf „Avalon“ nicht aufkommt, ist gute Laune, jedenfalls keine plakative, aber ebensowenig eine plakative Düster-und-dunkel-Stimmung wie aus dem drittklassigen Gruftischuppen .Dafür ist Real zu experimentierfreudig, fürs Radio ebenfalls. Die Zielgruppe von Real sollte mindestens zuhören können, die Freude an eigensinniger elektronischer Musik gibt’s dazu, und sich beim Hören tanzend bewegen verdoppelt das Vergnügen an „Avalon“.

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