Von Matthias Bosenick (10.04.2016)
Das ist also der vielgepriesene „Raum“: Ein niedrigschwelliges Esoterik-liebe-das-Leben-Drama. Ein Wohlfühlfilm auf Kosten von Fällen wie dem von Natascha Kampusch. Das filmgewordene Nachdenkliche-Sprüche-Bild auf Facebook. Was sehr schade ist. Der kleine Junge spielt fantastisch, die Kameraarbeit ist sehenswert, die Konstellation vielversprechend. Doch „Raum“ hält seine Versprechen nicht, aber dafür eine viel zu gerade Linie ein, die Konflikte und Konsequenzen zwar zaghaft andeutet, aber letztlich ausspart. Alles ist harmlos, alles ist überwindbar, alles halb so schlimm. Wird schon. Iss mehr unterschiedliche Burger, dann liebst Du das Leben. Schließlich ist hier ein Kind die Hauptfigur, und darin liegt schon ein erhebliches Maß an inhaltlicher Belanglosigkeit.
Die Ausgangslage ist dabei sehr spannend: Joy wird seit sieben Jahren von einem Entführer in einer Gartenlaube gefangen gehalten, um ihm sexuell zur Verfügung zu stehen. Nach zwei Jahren führte dies dazu, dass sie einen Sohn gebar. Jack ist also heute fünf und damit aufgewachsen, dass es kein „Draußen“ gibt. So.
Was kann man daraus machen? Man zeigt, wie es Joy gelingt, ihren Jack so aufzuziehen, dass er so geringe Defizite wie möglich erfährt, an Leib und Seele. Das gelingt ihr. Alles ist so normal wie bei Familien draußen. Schön. Natürlich rastet sie auch mal aus, ist aber sofort wieder ganz lieb. Okay.
Dann kommt der Entführer dazu, den sie „Old Nick“ nennt, also nach einem Kosenamen für den Teufel. Er hat an der Tür ein unknackbares Zahlencodeschloss installiert und nörgelt an Joys Essenswünschen herum. Dann geht’s diskussionslos gemeinsam in die Kiste und Jack verfolgt das Geschehen heimlich von seinem Bett im Schrank aus. So.
Old Nick stellt aber keine Gefahr dar. Joy spricht vor Jack zwar davon, dass er böse ist, der Film zeigt das aber nicht. Sicherlich wären Gewaltszenen oder heftige Auseinandersetzungen in dem Setting nur schwer zu ertragen, aber ganz ohne sie ist die Bedrohung nicht glaubwürdig. Es geht Joy schließlich den Umständen entsprechend gut. Abgesehen davon, dass sie ihrer Freiheit beraubt ist, aber so ist das halt.
Eines Tages nun kommt Joy die Idee, dass sie das Leben in dem Raum satt hat. Also negiert sie Jack gegenüber all ihre Lügen, mit denen sie ihn zeitlebens in Sicherheit wog, und bringt ihn dazu, sich tot zu stellen, damit Old Nick ihn aus der Hütte schafft und er fliehen kann. So.
Der Fluchtimpuls kommt reichlich aus dem Nichts. Und Jack akzeptiert nach einem kurzen Sträuben das neue Weltbild und zieht tatsächlich die Flucht durch. Das ist dann übrigens auch der überwältigendste Moment des Films: als Jack zum ersten Mal den Himmel sieht. Man bekommt den Eindruck, das ganze Zwei-Stunden-Werk sei genau darum herum gestrickt worden.
Denn danach plätschert „Raum“ in reichlich Behäbigkeit vor sich hin. Ein bisschen Familienkomplikation, ein bisschen ungewisse Zukunft, ein bisschen Wolfskind meistert spielerisch die Herausforderungen der Zivilisation, ganz viel Wir entdecken den Wert des Lebens. Ja, schön: Und dafür steckt man also als Überbau eine Frau in einen Bunker, vergewaltigt sie täglich und lässt sie einen Sohn gebären – ohne dies irgendwie als menschenverachtend und kriminell spürbar zu machen. Alles geht locker von der Hand, das Missbrauchtwerden wie das Leben im Raum sowie die späteren Selbstmordgedanken, Anpassungsschwierigkeiten und elterlichen Ressentiments.
Es gibt genau zwei Situationen nach dem Verlassen des Raums, die so etwas wie Hürden in diesem Plüschfilm darstellen: Als der Moderator einer TV-Show fragt, ob es für das Kind nicht besser gewesen wäre, wenn sie Old Nick gebeten hätte, es sofort nach der Geburt in bessere Hände zu geben, anstatt so egoistisch zu sein, es bei sich zu behalten, und dann, als ihr Vater es nicht schafft, seinen Enkel anzusehen, und fahrig-verwirrt verschwindet. Ansonsten passiert nichts, das nicht irgendwie nachvollziehbar oder gar voraussehbar wäre.
Letztlich beobachtet man die ganze Zeit lang einen Fünfjährigen dabei, ein Fünfjähriger zu sein, und wo er dies noch nicht ist, es zu werden. Die Ansichten und Reaktionen eines Kindes sind nur schwer mit Logik oder Ratio nachzuvollziehen, weil ein Kind mit diesen Elementen schlichtweg noch nicht arbeitet. Jacks Handeln ist also in gewisser Weise willkürlich, wo es nicht auf eine Weise klassisch Kindhaft ist, als wäre er eben nicht in Gefangenschaft geboren. Aber Jack ist stringent und konsequent dargestellt, als Kind überzeugender als seine Mutter. Damit steht Jack eindeutig im dramaturgischen Zentrum, denn Joy agiert komplett sprunghaft, vom Ausbruchstrieb über Egozentrik bis Suizidversuch. Alles ist zwar psychologisch erklärbar, aber im Erscheinen jeweils abrupt. Da rappelt das Drehbuch, während es die klassischen Verhaltensetappen im Grunde überraschungsfrei abarbeitet.
Jack-Darsteller Jacob Tembray ist hier der Stern in der Nudelsuppe. Das Kind überzeugt auf ganzer Linie, mehr als alle anderen, bis auf William H. Macy als bedröppelter Großvater. Gut gelungen sind die Bilder, denn die Kamera agiert oft aus der Hand und zeigt schöne Tiefeneffekte, die den Raum in seiner Enge einfangen. Gut gelungen ist auch, dass nicht jedes angerissene Melodrama ausformuliert ist; das Drehbuch spart allzu Offensichtliches aus und zeigt dann das Ergebnis. Schade nur, dass dabei immer noch zu viel Offensichtliches übrig bleibt.
Letztlich ist es perfide, dass diese Art verletzungsfreien Wohlfühlkinos auf einem so unvorstellbar schlimmen Ereignis wie einer Entführung mit jahrelangem Missbrauch basiert. Damit gibt man damit lediglich dem altbekannten Dschungelkind eine abgewandelte Grundlage, formulierte die furchtbare Ausgangssituation aber nicht in einer Form aus, die etwas von Belang erzählt. Das sind dann also leider verschwendete zwei Stunden Kino. Interessant wäre es nun, zu wissen, wie genau sich der Film an die Romanvorlage hält. Wenn es sehr genau ist, braucht man das Buch auch nicht zu lesen.