Von Matthias Bosenick (07.02.2024)
Wer Emma Stone gern ständig nackt und beim Sex sehen möchte, ist bei „Poor Things“ genau richtig. In diesem Film spielt sie eine Frau, die nach ihrem erfolgreichen Suizid das Gehirn ihres ungeborenen Kindes eingepflanzt bekommt, wieder zum Leben erweckt wird und zum Zwecke der Selbstermächtigung damit beginnt, herumzuvögeln, unter anderem als Prostituierte – und damit die patriarchisch eingerichteten Männer, bei denen es sich vermutlich um die titelgebenden „Poor Things“ handelt, auf den Kopf stellt. Viel Story bleibt abseits einiger punktgenauer psychologischer Dialoge nicht haften, dafür aber die Ausstattung: Optisch grob Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt, behält man aus 140 Minuten Film die futuristisch an Seilen über den Dächern von Lissabon schwebenden Straßenbahnen am längsten im Gedächtnis.
Filmisch bietet „Poor Things“ einiges Unerwartetes und Unkonventionelles. Nach der Suizidsequenz, dem Sturz einer Frau von einer Londoner Brücke, fährt der Film in Schwarzweiß fort. Die ersten Szenen, in denen man noch uneingeweiht bleibt, sind sehr ruckartig und hektisch montiert, es kehrt keine Ruhe ein, während man Bella Baxter dabei zusieht, wie sie sich in einer üppig ausgestatteten Residenz roboterartig mit dem Alltag auseinandersetzt, begleitet von einem vernarbten Wissenschaftler und einer Haushälterin, bald zudem von einem Medizinstudenten, der ihre Entwicklung dokumentiert, sich absurderweise in die kindhafte Bella verliebt und sie auch noch, angestachelt vom besitzergreifenden Wissenschaftler, heiraten will. Nachdem Bella jedoch die Freuden der Selbstbefriedigung für sich entdeckt, lässt sie den findigen Anwalt, der den Ehevertrag aufsetzen soll und Gefallen an der verführerischen wie leicht zu verführenden Monsterfrau findet, in jeder Hinsicht an sich heran und büxt mit ihm nach Lissabon aus – ihr erster Ausflug in die Freiheit, zack-zack.
Damit wechselt der Film von Schwarzweiß auf knallige Farben, behält die filmischen Mittel aber bei: Einige Szenen sind durch ein fischaugiges Camera-Obscura-Loch gedreht; meistens wechselt hernach etwas, die Stimmung oder die emotionale Ausrichtung. Viele Szenen sind in extremem Weitwinkel gedreht, was einen besseren Überblick über die Räume erlaubt und eine beinahe schrille Dynamik mitträgt. Außenszenen sind von einem künstlichen, aber beeindruckend gestalteten Himmel untermalt. Und Außenszenen gibt es bei den kulissenhaften Stationen Lissabon, dem Mittelmeerdampfer und Paris einige. Dazu gesellt sich ein Score, der mit Fug und Recht als kongenial zu bezeichnen ist: Die Musik gibt nicht wie bei Hans Zimmer die Emotionen vor, sondern begleitet die Wechsel in den Stimmungen akustisch, mit an digitale Shreds grenzenden Stakkatos, ins falsch Gestimmte neigenden Melodien, abruptem Lärm-Bombast.
In Lissabon also vergnügt sich die bereits vergebene Bella mit dem selbst außerordentlich promiskuitiven Anwalt – und bald auch mit anderen Männern. Der Anwalt wird rasend vor Eifersucht und entführt sie auf einen Dampfer, dessen Enge ihren Freiheitswillen indes nicht wie erwartet eindämmt. Aus Gründen verarmt, kommen sie in Paris unter, wo sich Bella als Prostituierte einen schönen Lebensstil erwirtschaftet und ihre sexuellen Horizonte massiv erweitert, während der Anwalt verzweifelt das Weite zu suchen hat. Bis Bella erfährt, dass der Wissenschaftler, bei dem sie ihr zweites Bewusstsein erlangte, im Sterben liegt, sie also nach London zurückkehrt, den Studenten heiraten will, vorm Altar von ihrem ersten Gatten weggeschleppt wird, der noch durchgeknallter ist als der Anwalt, der ihn aufhetzt, und sie wieder zurück und dann den Studenten doch noch ehelicht und mit ihrer Lieblingskollegin aus dem Bordell und den lustigen Hybridwesen auf dem Anwesen des krebskranken Wissenschaftlers einen Cocktail und wo waren wir gerade?
Sehr puh, ja. Bellas Verhalten ist unbedarft, weil, wie man erfährt, von einem Gehirn gesteuert, das eigentlich einem Ungeborenen gehörte, also Leben, Sprache, Bewegung, Gesellschaft, Konventionen und alles erst noch erlernen muss. Mit dieser Unbedarftheit spiegelt sie ihre Umwelt, da liegt viel Humor. Zunächst fällt sie auf die Verlockungen neuer Begegnungen herein, passt aber nach ersten unappetitlichen Erfahrungen ihr Weltbild und damit ihr folgendes Verhalten an. Ihr Bestreben ist die eigene Freiheit, die zuvorderst sexuell motiviert ist, und darauf, nun, reitet der Film überreichlich herum. Als gäbe es zum Thema Emanzipation keine weiteren Aspekte. Gibt es, aber die treten in den Hintergrund; wenn der Anwalt behauptet, Bella habe mit ihrer Vielvögelei sein Leben ruiniert, kommt die Replik zu kurz, dass er fürs Ruinieren seines Lebens schon ganz gut selbst verantwortlich war. Umgekehrt ist es eine schwer nachvollziehbare Haltung des Studenten, dass es ihm egal sei, wie viele Typen Bella in ihrer Abwesenheit vögelte, und dass das Geld, dass sie dafür nahm, seiner Ansicht nach sogar viel zu gering gewesen sei. Angesichts der Tatsache, dass er eine wiederbelebte Leiche datet, muss man da wohl von Kadavergehorsam sprechen.
Viel Geficke also, und das auch so bezeichnet, was etwas merkwürdig ist: Einerseits ist der Film optisch Ende des 19. Jahrhunderts zu vermuten, bereichert um retrofuturistische Steampunk-Elemente, die den Betrachter zutiefst beeindrucken, andererseits sprechen die Personen zum Teil wie heute, besonders im vulgären Vokabular. Diese relativ monothematische Orientierung ums Untenrum verhindert zudem eine Bindung zu den Charakteren, die teilweise zwar interessant erscheinen, aber dauerhaft nicht viel zu bieten haben. Die Figuren lassen einen einfach mal kalt.
Und das trotz der teilweise guten bis großartigen Schauspielkunst. Willem Dafoe als zerfurchter asexueller Wissenschaftler Godwin Baxter mit dem lustig-subtilen Rufnamen God bereitet einige Freude, übertroffen nur von Emma Stone, die die Entwicklung von der ungelenken Ex-Leiche über die naive Teenagerin zur selbstbestimmten Frau überzeugend performt; auch bekleidet: Sobald sie mal nicht nackt ist, trägt sie zu ihrer Profession passend Puffärmel. Die Figur, die Hanna Schygulla darstellt, unterhält sehr angenehm. Die Männer hingegen sind karikaturesk überzeichnet, vom wahnsinnigen Anwalt über den manischen Ex-Gatten über die endlose Phalanx der voyeuristisch-kuriosen Freier bis hin zum überbraven Studenten.
Feminine Selbstermächtigung durch sexuelle Freizügigkeit bleibt als angenommener Schwerpunkt dieses Filmes haften. Als Spiegel der verklemmten Gesellschaft, die ein solches Leben im Verdeckten ebenfalls führt oder gern führen würde, ein netter Aspekt, aber man hätte diese Inhalte auch weniger explizit und monothematisch zum Ausdruck bringen können. Ach ja, der Vollständigkeit halber sei natürlich der naheliegende Bezug erwähnt: Mary Shelleys „Frankenstein oder Der neue Prometheus“, der hier in der Romanvorlage „Poor Things: Episodes From The Early Life Of Archibald McCandless M.D. Scottish Public Health Officer“ von Alasdair Gray aufgeht.