Von Matthias Bosenick (09.09.2016)
Interesse wecken durch Verknappung: „One More Time With Feeling“, die Dokumentation zum neuen Album von Nick Cave & The Bad Seeds mit dem Titel „Skeleton Tree“, läuft weltweit nur einmal in den Kinos, und zwar am Vorabend der Albumveröffentlichung. In dem fast zweistündigen Film offenbart der Bandchef Einblicke in seine Seele, die der Tod seines Sohnes traumatisierte. Die Auswirkungen schlagen sich in Texten und Musik seiner Bad Seeds nieder. Ergreifend, überwiegend schwarzweiß, musikalisch unerwartet, poetisch und trotzdem nicht frei von Humor.
Die Hintergründe für diesen Film muss man allerdings den Gossipnews entnommen haben, erst spät benennen Nick Cave und seine Frau Susie den Tod ihres Sohnes Arthur. Man muss wissen, dass jener sich vor gut einem Jahr im Alter von 15 Jahren bei Brighton von den Klippen stürzte, Medienberichten zufolge im Zuge eines aus dem Ruder gelaufenen LSD-Tests. Das verschweigt der Film indes. Vielmehr vertieft er sich in Caves Seele und in die Auswirkungen, die das Trauma auf ihn haben.
Regisseur Andrew Dominik kommt dem ansonsten verschlossenen und sich gern kryptisch gebenden Cave überraschend nah, gelegentlich schockierend nah. Cave lässt persönliche Einblicke zu, die er im Verlauf de Films sogar beinahe bereut. Intim als Bezeichnung ist da beinahe zu gering. Auch seine Gattin Susie kommt zu Wort; sie ist es, die anhand eines Bildes, das Arthur im Alter von fünf Jahren von exakt seiner Unglücksklippe malte, Details zu den Umständen für den Film und das Album preisgibt.
Zu den künstlerischen Auswirkungen gehört, dass Caves Texte auf „Skeleton Tree“ nicht mehr Geschichten erzählen wie früher, sondern Stimmungen aufgreifen, Haltungen transportieren, seelische Abgründe analysieren. Cave ist weniger eindeutig und lässt freie Interpretationen zu, dabei gibt er sich ausgesprochen poetisch. Auch die Musik ändert sich; mit dem Wissen um das, was die Band hier spielt und das auf dem Album landen wird, ahnt man nachträglich die grobe Richtung auf dem ruhigen Vorgänger „Push The Sky Away“. „Skeleton Tree“ wird indes manischer, weniger songorientiert, birgt Störgeräusche, verstört mit abrupten Chören, birgt ein nervöses Jazzschlagzeug, mahnt, trauert, brüllt den Schmerz heraus, ohne laut zu sein. Einmal mehr untermauert sich der Eindruck, die wahrhaft interessante Musik werde heutzutage von erwachsenen Menschen gemacht. Cave ist fast 60 Jahre alt.
Cave und seinen ewigen Sidekick Warren Ellis verbindet eine ausnehmend tiefe Freundschaft. Das deutete sich bereits in der großartigen Fake-Dokumentation „20,000 Days On Earth“ über Caves Leben an und vertieft sich in Zeiten der Trauer. Außerdem ist Ellis auch kompositorisch Caves wichtigster Begleiter. Überdies arbeiteten beide bereits mit dem Regisseur zusammen: Sie komponierten den Soundtrack für dessen Western „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford (The Assassination Of Jesse James By The Coward Robert Ford)“.
Da der Stoff extrem heftig ist, greift Dominik zu probaten Mitteln: Er lässt den Traumatisierten selbst Humor in den Film einbringen. So stellt er ihn nicht bloß und gibt ihm die Chance, seinen Schmerz auf seine eigene Weise zu brechen. Dominiks eigener Beitrag dazu ist, als Quasi-Metaelement Diskussionen um nichtgelungene Takes als gelungene Takes in den Film zu schneiden: Cave soll sich erneut anziehen und langsamer aus dem Bild verschwinden, Susie findet es in Ordnung, dabei gefilmt zu werden, auf dem Klo ihr Kleid zu richten; die Schüssel sehe man ja nicht.
Dominik drehte an wechselnden Standorten; während Autofahrten, am Tisch, bei den Caves in Brighton zu Hause, im Studio. Er begleitet den kreativen Prozess des Poeten und die Entstehung der Musik im Studio, wo alle Musiker gemeinsam live die neuen Songs performen. Auf die kann man sich nur freuen, das Album wird großartig. Beim „Skeleton Tree“ handelt es sich übrigens nicht um einen figurativen Skelettbaum, sondern um Euphorbia tirucalli, in Ausnahmen auch Euphorbia rhipsaloides oder Euphorbia viminalis, zu Deutsch jeweils Milchbusch, Bleistiftstrauch oder Tirucalli-Wolfsmilch.