Von Matthias Bosenick (11.06.2021)
Endlich Kino! „Nomadland“ ist eine Art Doku-Spielfilm mit hübschen Bildern und allem voran Frances McDormand, der man nur zu gern dabei zusieht, wie sie die haus-, nicht obdachlose Fern spielt, die mit ihrem Van namens Vanguard durch die USA juckelt, um etwas Geld zu verdienen, Menschen zu begegnen und nach dem Tod ihres Mannes und dem Verlust ihres Wohnsitzes überhaupt eine neue Richtung in ihrem Leben zu finden. Ein Mike Leigh hätte dem Film vermutlich mehr Drama gegeben, darauf verzichtet die gebürtige Chinesin Chloé Zhao, nicht aber auf Emotionalität, und wählt dabei eine unamerikanische Darstellungsweise, vermeidet also Kitsch und Pathos. Ein schöner Einstand ins neue Kinojahr.
Vorweg sei gespoilert, dass Zhao es unterlässt, Fern böse Dinge erleben zu lassen. Man erwartet beinahe, dass im Verlauf der Geschichte ihr Van aufgebrochen, sie bestohlen oder sie von Männern bedrängt wird, doch gottlob hat die Geschichte ausreichend andere Themen, um zu fesseln. Da diese auf einem nichtfiktionale Buch basiert und Zhao manche Szenen aus Ferns Leben schlaglichtartig ablichtet, kommt der Eindruck eine Dokumentation recht früh auf. Man sieht Fern bei Amazon im Lager arbeiten, andere Hauslose treffen und sich in ihrem Van einrichten. Nach und nach verliert sich dieser Eindruck zugunsten von Ferns Reise und ihren Gefühlen, die sie indes selten aktiv preisgibt.
Ferns Roadmovie beginnt damit, dass die Stadt Empire in Nevada, in der sie und ihr Mann lebten, aufgegeben wird, weil der Betrieb, dessentwegen sie gegründet wurde, bankrott ist. Ihr Mann ist inzwischen verstorben und sie zieht allein los, von äußerem Zwang und innerem Freiheitsdrang getrieben, findet Gelegenheitsjobs, in die sie sich flugs einarbeitet, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, findet Freunde und Weggefährten, manche einmalig, manche öfter, manche langfristig, findet Solidarität unter den Entwurzelten, findet Kontemplation in der Verbesserung ihrer Van-Ausstattung und in eindrucksvollen Landschaften, sieht sich einer aufkeimenden Liebe ausgesetzt und müht sich um Akzeptanz von der Familie ihrer Schwester. Anders als bei Britischen Sozialdramen sind die gesellschaftlichen und kapitalistischen Ungerechtigkeiten in den USA hier nicht zentrales Thema, sondern eher ein Begleitton, den man indes auch ausblenden kann, wenn man seine Wahrnehmung auf Ferns Schicksal verlagert.
Interessanterweise agiert Fern zunächst beinahe passiv, sie bekommt viel, gibt viel zurück, ist Teil der Gesellschaften, gibt aber nur wenig von sich preis und fällt ihre Entscheidungen aus der Hüfte. So strahlt sie Eigenständigkeit und Kraft aus, Unerschütterlichkeit, Stabilität, Gemeinsinn – und bald auch Emotionalität. Erst gegen Ende sieht sie sich zu einer Art Betteln gezwungen und auf den Ursprung ihrer Reise zurückgeworfen und offenbart sich anderen und damit dem Zuschauer mehr.
Diese Reise führt sie auch zu Bob Wells, einem Priester der US-Nomadenkultur, die aus den unterschiedlichsten Gründen zusammenkommt, für die er einsteht und der er wertvolle Tipps gibt. Das jährliche Treffen findet irgendwo in der winterlichen Wüste statt, und so wie dort ist die Landschaft auch den gesamten Film über: karg, leer, öde, kalt und darin ausnehmend schön, mit opulenter Bewölkung und Bergen im Hintergrund. Jede Straße ist eine Option, eine Verheißung, und Fern folgt ihnen bereitwillig. Wie sie finden sich viele Nomaden nicht in die Gesellschaft ein, und mit ihnen bildet sie eben jene Gemeinschaft. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Umstände erscheint dies eher märchenhaft, aber für den Betrachter auch mal ganz heilsam, dass es eben nicht zu extremen Ausbrüchen kommt.
Vorlage ist das Buch „Nomadland“ der Journalistin Jessica Bruder, und so authentisch wie die Erlebnisse sind daher auch die Charaktere, die Zhao kurzerhand mit den real im Buch auftretenden Nomaden besetzte, die – wie Nick Cave in „20.000 Days On Earth“ – hier eine fiktive Variante ihrer selbst spielen. Man spürt diese Authentizität, die den Film anrührend macht. Eine gute Kombination dazu ist die dezente Klaviermusik von Ludovico Einaudi. Zugute kommt dem Film auch, dass Zhao auf den typisch amerikanischen pathetischen Kitsch verzichtet. Daraus ergibt sich ein Sozialdrama mit positivem Grundgefühl – paradox, sicher, aber sehenswert.