Von Matthias Bosenick (09.09.2013)
Anscheinend hat Trent Reznor seinen musikalischen Sprachschatz einmal komplett ausgereizt und ordnet die vertrauten Bestandteile jetzt nur noch irgendwie übersichtlich an. Technisch ist das neue NIN-Album einwandfrei, es lässt aber alles vermissen, wofür man das Projekt vor 20 Jahren zu lieben gelernt hat. Sicher, der Mann ist clean und weniger depressiv, aber dann sollte er für seine musikalischen Ergüsse vielleicht einen anderen Projektnamen wählen. Auch der Titel „Hesitation Marks“ führt in die Irre, denn danach, dass hier jemand versucht haben könnte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, klingt es nicht. Es fehlen Seele, Schmutz und Schmerz.
Was hat der Mann gelitten. Von „Pretty Hate Machine“ (1989) zur „Broken“-EP (1992) wurde seine zunächst dem Synthiepop nahe Musik dunkler, härter, anstrengender, herausfordernder, brachialer, brutaler. „The Downward Spiral“ (1994) ist und bleibt das Opus Magnum, in sich schlüssig, Musik und Thema stützen einander, es geht in die Tiefen der Seele. Das auf CD Doppel- und auf Vinyl Driefach-Album „The Fragile“ (1999) hielt das Level fast ebenso hoch. Bergab ging es mit dem zahnlosen „With Teeth“ (2005), „Year Zero“ (2007) sackte zumindest nicht noch weiter herunter. Seit „Ghosts I-IV“ (2008) spielt der Meister nur noch mit seinen Sounds herum, so auch auf den unter seinem Namen veröffentlichten Soundtracks zu „The Social Network“ (2010) und „The Girl With The Dragon Tattoo“ (2011) sowie seinem Zweitprojekt How To Destroy Angels, einzig unterbrochen vom bis dato letzten NIN-Album „The Slip“ (2008), das noch ein paar gute Tracks hatte und damit ungefähr das Level von „Year Zero“ hielt.
Heute geht es dem Mann offenbar gut. Ist ja auch erfreulich, so etwas. Er bastelt am Laptop mit seinen Sounds herum, gießt sie in oben genannte Soundtracks und Instrumentalstücke („Ghosts“), arrangiert hier ein wenig, programmiert dort etwas. Irgendwie hatte er wohl Lust, die eigentlich beerdigten Nine Inch Nails zu reaktivieren, und wandte seine entspannte und einträgliche (Millionenverkäufe, Oscar- und Golden-Globe-Gewinne) Kompositionsmethode auf das neue Album an. Er erinnerte sich, was er früher wohl so gemacht haben mochte, und stellte die Versuchsanordnung aus der Erinnerung nach. Und eben nicht aus dem Inneren.
Das, was Reznor transportieren will, fühlt er allerdings nicht mehr. Weder ist er wütend noch deprimiert, sein Seelenschmerz ist abgeklungen. Daher vermitteln die Stücke den Eindruck, als würde jemand Unbedarftes versuchen, wie Nine Inch Nails klingen zu wollen. Das Ergebnis ist ganz ordentlich, handwerklich einwandfrei, klare, einfache, glattpolierte Sounds und Strukturen, schlüssige Instrumentierung, nette Melodien – also nichts, was man von NIN erwartet. Das Album ist viel zu aufgeräumt, es fehlt das Hintergrundrauschen, es fehlen die Brüche, es fehlt das Unerwartete. Es fehlt auch ein Überbau, man bekommt kein Album, sondern diverse aneinandergereihte Songs.
Etwas Ähnliches war auch bei Devin Townsend zu beobachten. Der bewältigte seine manische Depression und machte hernach deutlich weniger komplexe und düstere Gitarrenmusik. Auch bei Townsend musste man sich auf die neuen Soungs und Sounds einlassen. Der Unterschied ist, dass Townsend nachvollziehbarer und konsequenter ist. Er legte seine Marke Strapping Young Lad ab und macht seine neue Musik unter einem neuen Projektnamen. Und die ist dabei auch noch weniger beliebig.
Dem Album „Hesitation Marks“ liegt in seiner limitierten Version eine Remix-CD bei. Auch die erweitert das Spektrum nicht, anders als man es von NIN-Mix-CDs gewohnt ist – was erstaunt, bei Remixern wie Todd Rundgren und Genesis P-Orridge. Das Album ist natürlich nicht scheiße, aber eine herbe Enttäuschung. „The Fragile“ packt den Hörer mit voller Wucht und mehrfach, „Hesitation Marks“ läuft störungsfrei im Hintergrund. Wie nannte es eine Freundin des Rezensenten: „Trent Tresor“. Den füllt er damit sicherlich. Ah doch, eine positive Überraschung gibt es: Im vorletzten Track „While I’m Still Here“ hört man ein Saxophon.