Von Matthias Bosenick (01.06.2023)
Eine Geige statt einer Gitarre als Lead-Instrument zu verwenden, ist schon mal ein herausragendes Mittel. Dann kommt hinzu, dass das Belgische Trio Nile On Wax (Eigenschreibweise: Nile On waX, weil die drei die Band 2007 noch als NOX gründeten) auch auf seinem vierten Album „In Heaven“ Instrumentalmusik macht, die sich an keine Songstrukturen hält, auf langen Strecken nicht mal Rhythmen beinhaltet, eher Drones generiert, dunkle Soundtracks zu beklemmenden Filmen, Kammermusik, Nihilismus, aber auch atmosphärischen Schönklang, also lauter Sachen, die Spaß machen, sofern man eine Apokalypse kuschelig findet, und die man zwingend laut hören muss, um alle Nuancen und den vollen Effekt genießen zu können.
Es vergehen zehn der zwölf Minuten des eröffnenden Quasi-Titeltracks „In Heaven“, bis das Schlagzeug einen postrockigen Beat anschlägt, nur kurz, aber wie um festzulegen, dass es bei NOX ebenfalls eine Rolle spielt, ebenso der Bass, nicht nur die nach Art des Kronos Quartet kratzende oder lieblich fiedelnde Violine. Erst „More Icon“ bedient die Idee von Indierock, einem stark gebremst groovenden, den die Geige in höchsten Tönen durchbricht, bis man den kurzen Eindruck von New Model Armys „Vagabonds“ erhält. Damit bringt das Trio den Umstand in Erinnerung, dass man es grundsätzlich schon mit einer Rockband im weitesten Sinne zu tun hat, und fährt gleich wieder experimentell fort. „August 4“ besteht aus einem jazzigen Hihat, sich wiederholend gedronetem Bass und einer darübergelegten freien Geigenmelodie, birgt also kein Stück Rockmusik, wie man sie kennt.
Das Trio experimentiert in „Ascension“ mit seinem Instrumentarium, man sollte unbedingt die Lautstärke erhöhen, es wird karg, still, dunkel, leer, bald wie auf dem Solo-Album von Mark Hollis, abermals mit einem leichten Anflug freien Jazzes, mit erst spät hinzustoßenden Rhythmen wie bei Angelo Badalamenti. Das Zwischenstück „Eternity“ spielt mit Samples und Rückwärtseffekten, „Improbable“ und „Slowdown“, zusammen eine Viertelstunde lang, beschließen das Album einmal mehr mit der vorangegangenen Mischung aus düsteren Soundscapes, freiem Jazz und groovendem Indierock. Vorletzteres dürfte sogar das energetischste, lärmendste Stück des Albums sein, das Finale schließt mit einem wehmütigen Sirenengesang, der ebenfalls in einen dunklen Jazz übergeht. „After Heaven“ fährt die Ausbrüche, den Druck und den Groove des großartigen Vorgängers „Bell Dogs“ aus dem Jahr 2017 zugunsten von mehr Dunkelheit, Leere und Atmosphäre zurück, eine Entwicklung, die dem Sound guttut. Die Erinnerung an den Werdegang Talk Talk wird damit noch stärker.
Der Eindruck von ambientartiger Filmmusik entsteht auf diesem Album nicht aus dem Nichts: Violinistin und Bandchefin Catherine Graindorge komponierte bereits mehrfach für Kino und Theater. An Bassist David Christophe und Schlagzeuger Elie Rabinovitch geriet sie bereits 2001, als sie als Gast auf dem Album „Other Skies“ von deren One-Off-Band Upland mitspielte. NOX gründeten die drei erst 2007 und benannten die Band zwischen dem zweiten und dritten Album in Nile On waX um. Graindorge ist aber auch darüber hinaus beeindruckend aktiv und arbeitet mit ehrenvollen Künstlern zusammen, so veröffentlichte sie im vergangenen Jahr die EP „The Dictator“ mit Iggy Pop und 2017 das Album „Long Distance Operators“ mit Hugo Race, für den sie auch bei den Fatalists und bei Dirtmusic bereits den Bogen schwang. Und das ist nur eine kleine Auswahl ihrer Betätigungsfelder. Nile On waX steht aber bestens für sich und sollte, dies sei einmal mehr empfohlen, dringend laut gehört werden.