Von Guido Dörheide (22.04.2025)
„Larger Than Life: Die Filmemacherin Daryl Hannah hat ihren Mann Neil Young für ein filmisches Porträt auf seiner ersten Tour nach Corona begleitet.“ So schrieb die taz vor einigen Tagen, und ich konnte mir ein Schmunzeln, ach was, ein gröhlendes Gelächter nicht verkneifen. Wäre Daryl Hannah vor ca. 1.000 Jahren schon am Leben gewesen und wie der Autor dieser Zeilen ins Harzgebirge verzogen, um dortselbst zu heiraten, und wäre ihr Auserwählter dann der König und spätere Kaiser Heinrich der Vierte gewesen, jahaa – dann hätte sie ihn wohl auf seiner ersten Tour nach Canossa und nicht nach Corona begleitet. Mettwurst statt Bier, Schwamm drüber. Spielt keine Rolle.
Aber genug des platten Witzes – den „Coastal“-Film würde ich wahrlich gerne mal sehen, aber ob der komplett hirnverbrannten Veröffentlichungspolitik („One Night Only – April 17th“) kann mich der kanadische Wahl-US-Amerikaner mal gepflegt an die Füße fassen, der 17. April ist längst Geschichte, ich habe mir den Film an seinem wohl einzigsten (sic!) Ausstrahlungstag nicht angesehen und werde das auch in Zukunft nicht tun, sondern lieber weiterhin damit fortfahren, in einer freien Welt zu rocken.
Das Soundtrack-Album höre ich mir natürlich schon an, weil ich ja nicht genug davon bekommen kann, wie es sich anhört, wenn Young seine alten Lieder neu interpretiert, etwas, dass er seit gefühlt 20 Millennien immer wieder tut, wenn er nicht gerade unveröffentlichte Alben aus den 70er Jahren nun endlich doch veröffentlicht, deren Material er nur wenige Monate später auf anderen Alben aus den 70er Jahren dann doch veröffentlicht hat, und scheiß die Wand an – offiziell veröffentlichte und kurz vorher unveröffentlichte Versionen unterscheiden sich meistens nur um ein Mü oder ein Jota, also quasi um einen Fliegenschiss voneinander. Und dann haut er auch noch Jahr um Jahr neue bislang unveröffentlichte Live-Aufnahmen aus eben diesen 70er Jahren raus, die bislang unveröffentlicht und in unglaublich großartiger Qualität in irgendeinem Keller unter seiner Ranch die Jahrzehnte überdauert haben wie irgendein unterbewerteter Rotwein in unetikettierten und maximal verstaubten grün getönten Glasflaschen – Neil Young überschwemmt die Märkte mit überaus überzeugenden Kostproben seines mittlerweile über sechs Jahrzehnte andauerndes musikalischen Schaffens, und dafür lieben wir ihn. Nein, Scheiße, nicht nur für das, sondern vor allem auch dafür, wie er sich alle paar Jahre immer wieder neu erfindet: Nach einigen wenigen Jahren des Folkrocks mit Buffalo Springfield, noch großartigeren Soloalben mit Folk, Rock, Folkrock, CSN&Y-Erwachsenenfolk, Country und dann dem ersten und größten Stadionrock aller Zeiten („Hey Hey, My My“), Elektro-Folk, nochmal Country, Rock’n’Roll wandte sich Young dann der Patenschaft des Grunge zu, nur um in den Jahrzehnten danach wieder mehr Folk und noch mehr Rock zu machen.
Und jetzt also „Coastal“ – und hier erfahren wir wahren Young Believers, warum es sich lohnt, allem, was der Meister an Veröffentlichungen heraushaut, gehörig Tribut zu zollen, weil meistens denkt er sich was dabei und in 100% der Fälle liegt er mit allem richtig, was er macht.
„Coastal“ ist kurz (41 Minuten) und komplett von Young alleine (mit einer kleinen Hilfe von Bob Rice am zweiten Klavier und am Vibrafon) eingespielt und enthält KEINE HITS. Kein „Heart Of Gold“, kein „Rockin’ In A Free World“, kein „Pocahontas“, kein nichts überhaupt irgendwie. Witzigerweise erhält das 1995er Album „Mirror Ball“, das Young zusammen mit Pearl Jam aufgenommen hat, auf „Coastal“ viel Aufmerksamkeit: „Coastal“ startet mit „I’m The Ocean“, das in den späten 1990er Jahren mein apselutes Lieblingsneilyoungstück war – damals sehr grungig in Szene gesetzt und hypnotisch vor sich hin mäandernd. In der Neuaufnahme weicht der Grunge dem Folk, es gibt viel Mundharmonika und Young presst sich quäkend die Strophen heraus, dass es eine wahre Freude ist, ihm dabei zuzuhören. So gesehen hat er mich schon mit dem ersten Song des Albums komplett in der Tasche, später folgen dann noch „Song X“, der Opener von „Mirror Ball“, und „Throw Your Hatred Down“. Und dann diese Stimme! Es gibt Künstler, deren Stimme in den späteren Jahren (Neil Young ist mittlerweile immerhin 79 Jahre alt!!!) auf eine knarzige Art und Weise gealtert ist (Bob Dylan), oder welche, deren Stimme brüchiger und schwächer, aber umso mitreißender geworden ist (Johnny Cash, Leonard Cohen), während wieder andere ihre Stimme aus den 1960er Jahren behalten haben (Paul Simon), aber bei Neil Young ist es nochmal besonders: Er singt immer noch so hoch wie damals in den 1960ern und 1970ern (unvergessen seine Performance auf „After The Gold Rush“, DEHEEEEEEM Young-Album aller Zeiten), klingt trotzdem älter und weiser, falls das überhaupt geht, und komplett einzigartig. Niemand singt wie Neil Young, außer Neil Young, und niemand spielt so Gitarre wie er.
Auf „Coastal“ gibt es den typischen Neil-Young-Folkgitarrensound zu hören, aber auch seine krachige Seite, für die er keine Begleitband braucht – wenn Neil Young die Wände zum Einsturz bringen will, reicht ihm dazu eine einzelne verzerrte E-Gitarre. Auf dem oben schon erwähnten „Song X“ ist das besonders gut zu spüren. Hier hört man viel Gitarre, auf anderen Songs hört man umso mehr Gesang. Wie zum Beispiel auf „Prime Of Life“ vom 1994er Album „Sleeps With Angels“, das eigentlich auch ein rockigeres war. Hier steht Youngs Stimme im Vordergrund, und dazu gibt es im Hintergrund viel stark verzerrte Gitarre zu hören – auf dem damaligen Album ist mir der Song kaum aufgefallen, hier sticht er komplett heraus und bringt alles, was Young kann, schön zum Vorschein. Und so geht es mir beim Hören des gesamten Albums die ganze Zeit: Unkonventionelle Songauswahl, toller Sound, zutiefst berührender Gesang – Neil Young wird nie schlechter und nie unbedeutend, und mit „Coastal“ führt er tolle Songs aus den 1970ern mit seinem Spätwerk seit sagen wir mal 1995 zusammen. Großartig.