Von Matthias Bosenick (18.11.2014)
Wenn man lediglich weiß, dass Altmeister Mike Leigh einen Film über den unangepassten Maler William Turner gedreht hat, und guckt sich dann den Film an, wird man überrascht: Er bricht mit allen Erwartungen. „Mr. Turner“ ist kein klassisches Bio-Pic, und das ist auch gut so. Die Erzählstruktur verwirrt zunächst: Man bekommt Fragmente vorgesetzt, die nicht einmal direkt mit Turners Biografie zu tun haben, sondern eher seinen Alltag abbilden. Sie scheinen keinen Bezug zueinander zu haben, sondern eine Ansammlung von Mosaiksteinen zu sein. Mit der Zeit ähneln sie dann vielmehr Morsezeichen, die hintereinander gelesen sehr wohl eine Geschichte ergeben. Diese Geschichte ist sehr lehrreich, nur ist sie zu lang: In 150 Minuten findet sich leider auch Langeweile.
Man erwartet von dem Film sicherlich auch, dass Leigh viel mehr Schauplätze zeigt, die Turner zu seinen verwaschenen Seestücken inspirierten. Man sieht sie auch, aber nur höchst selten. Lediglich der in Sepia und Gelb gehaltene Film ist eine Reminiszenz an Turners Malstil. Selbst der fragmentarische Handlungsaufbau ist nicht auf Turners Werk zurückzuführen, denn der Film setzt die Teile scharf abgetrennt aneinander, nicht diffus. Doch sind in fast jedem Fragment Informationen über Turners Zeit untergebracht, über die Entwicklung in der Malerei, über Technisierung, mit Eisenbahn und Fotografie (erstere fasziniert Turner, von zweiterer sieht er trotz seiner Begeisterung dafür seinen Berufsstand bedroht), über Medizin, Transport, Gesellschaft, Kleidung, Stände, Historisches – der Film ist also ein Porträt Londons in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. All diese Informationen begleiten nun Turner, der malt, hustet, liebt, trinkt, reist, experimentiert, hasst, parliert, isst, betrügt, studiert, grunzt, sich entwickelt. Der Film-Turner ist letztlich selbst die Leinwand für ein historisches Gemälde.
Seine Malerei, seine Inspiration hingegen sind selten Thema. Man verfolgt zwar, wie er sich vom Figürlichen der Romantik zum Abstrakten des kommenden Impressionismus entwickelt, erfährt aber nicht konkret seine Beweggründe. Man hört ihn über bestimmte Farbpigmente und Begriffe wie Malbutter sprechen, erfährt aber nicht, wie er sie einsetzt. Der Film beginnt irgendwo in Turners Leben, als er bereits als Maler etabliert ist; sein Wort hat in der Kunstszene großes Gewicht, jedoch nur so lange, bis seine Abstraktionen als Zeichen für Schwachsinn aufgefasst werden.
Der alte Zyniker Leigh inszeniert „Mr. Turner“ unaufgeregt. Weder allzu nervenaufreibende Konflikte noch Gewalt oder gar, wie es bei alten männlichen Regisseuren irgendwann überflüssigerweise üblich wird, unmotivierte Nacktheit stören den Lauf. Doch hält Leigh bei manchen Sequenzen zu lange drauf, in Summe wirken einige Passagen langweilig. Zweieinhalb Stunden sind leider zu viel für diesen Film. Dennoch geht man zwar mit einem Gefühl von Langatmigkeit aus dem Kino, behält den Film aber als maßlos interessant im Kopf. Vergeudete Zeit ist dies also gottlob nicht.