Von Guido Dörheide (29.06.2023)
Mit einem fröhlichen „Gutnaaaabend! Bonsoir! Buongiono – I forgot that!“ begrüßt Lemmy das Publikum nacheinander in allen drei schweizerischen Landessprachen mit Ausnahme von Rätoromanisch. Anschließend schlägt er eine Brücke zwischen dem Montreux Jazz Festival und dem Schaffen von Motörhead: „So this is the Montreux Jazz Festival. Here‘s a bit of jazz for you [zumindest habe ich das so verstanden – Anm. d. Verf. d. Z.]. We are Motörhead, and we play Rock‘n‘Roll!“ Und dann legen Motörhead in ihrer längsten und meiner Meinung nach auch besten (jahaa – Philthy Animal Taylor, ich spüre Deine vernichtenden Blicke von ganz weit oben/unten/wieauchimmer in meinem Nacken glühen) Besetzung – Lemmy Kilmister (b, voc), Mikkey Dee (dr) und Phil Campbell (g) – mit „Snaggletooth“ auch gleich ordentlich los. Lemmy ist bei der damaligen Tour sowohl sehr gut bei Stimme – von den späteren krankheitsbedingten Schwankungen der Wucht seiner Performance war noch weit und breit nichts in Sicht – als auch gut aufgelegt, Phil Campbell lässt die Gitarre dreckig röhren und Mikkey Dee schmiedet die Trommeln wie gewohnt sowohl präzise als auch lautstark, solange sie heiß sind. Die Produktion ist für ein Live-Album exzellent.
Natürlich ist „No Sleep ‘til Hammersmith“ seit 1980 das nie wieder erreichte Referenzwerk an motörheadscher Live-Atmosphäre und alle anderen (großartigen) Live-Alben haben seit jeher den Stellenwert eines rothaarigen, sommersprossigen Volkswagen 411 im Katalog der Band, doch „Live At Montreux Jazz Festival ’07“ muss sich allein schon angesichts des für eine laute Rock‘n‘Roll-Band untypischen Auftrittsortes an nichts messen und bildet das Erlebnis, das die späten Motörhead dem Publikum boten, in einem hinreichend gegen den Wert 1:1 gehenden Maßstab ab. Die Band ist zum Plaudern aufgelegt und nimmt immer wieder verbalen Kontakt zum Auditorium auf. Im Anschluss an das ikonische „Metropolis“ lassen sie die Zuhörenden wissen, dass sie „the loudest crowd at this festival“ seien, und damit meinen sie tatsächlich nicht sich selbst, sondern das zum Schreien aufgeforderte und -gelegte Publikum. Dieses liefert wirklich laut ab und die Kapelle stimmt eine hammerschnelle Version von „Over The Top“ an, deren Höhepunkt ein Solo Campbells bildet, das trotz aller Geschwindigkeit und Härte nichts an Gefühl fehlen lässt. Hitmäßig halten sich Motörhead am Genfer See vornehm zurück: Diese Band kann locker mehr als ein C90-Band mit nichts als Hits füllen – alles Knüller, keine Füller. In Montreux kommen die Herren auf gerade mal vier apeslut unwiderstehliche Groß-Hits aller Zeiten, nämlich „Stay Clean“, „Metropolis“, „Ace Of Spades“ und „Overkill“. Natürlich ist das nur meine Zählung und über den Klassikerwert des einen oder anderen Stücks aus der Setlist lässt sich sicher streiten (das zitierte „Over The Top“ beispielsweise, „Going To Brazil“, „Killed By Death“ oder „Iron Fist“ etwa), aber worauf ich hinaus will, ist eher Folgendes: Lemmy und Phil und Mikkey beweisen bei der Songauswahl viel Kreativität und sind sich nicht zu schade, das über jeden Zweifel erhabene „I Got Mine“ als ein Stück ihres unpopulärsten Albums (die Rede ist selbstredend von „Another Perfect Day“) anzukündigen. Und auch hier spielt sich Campbell bei mehr als einem überlangen Solo schier die Fingerkuppen weg, und zwar mit unglaublicher Härte, Präzision und dennoch voller Wärme und Gefühl – ein Hammer angesichts der Tatsache, dass bei der Studioversion aus 1983 nicht er, sondern Thin-Lizzy-Legende Brian Robertson für die Gitarre zuständig war.
Mit „Rosalie“ ist sogar ein Thin-Lizzy-Cover auf „Live At Montreux Jazz Festival ’07“ vertreten – damit hätte ich bei Motörhead nicht gerechnet. Obwohl sie das regelmäßig taten, eilt Motörhead der Ruf hinterher, sie können keine guten Coverversionen spielen. Ich hingehen sage: „Ach was“ und verweise auf diese vor einigen Jahren post mortem erschienene Sammlung wirklich guter Coverversionen. Und auch „Rosalie“ braucht sich nicht zu verstecken, vor wem auch? Angekündigt wird es von Lemmy als Hommage an Phil Lynott, „one of my heroes“, und eingeleitet mit den Worten „So this is for Phil – live forever, motherfucker!“ Dann gehen Motörhead bei und machen aus „Rosalie“ ein typisches Motörhead-Stück, bis kurz vor Ende ein kurzes Solo erschallt, das sehr im Geiste von Phil Lynott und Scott Gorham tönt und die Herzen wärmt.
Mit „Sacrifice“ folgt dann das längenmäßig längste Stück des Albums und ich überlege, ob es ob seiner Länge vielleicht sogar als Herzstück des Auftritts vorgesehen gewesen sein könnte. Ich persönlich konnte mich für „Sacrifice“ nie so richtig erwärmen, obwohl es rückblickend das Titelstück eines wahrhaft geschichtsträchtigen Albums ist: Erschienen 1995, markiert es in etwa die Halbzeit von Motörheads Karriere und stellt gleichzeitig das letzte Werk in der für Motörhead für lange Zeit charakteristischen Aufstellung als Quartett (mit Michael „Würzel“ Burston und Phil Campbell an den Gitarren und zunächst Phil „Philthy Animal“ Taylor und seit 1992 dann Mikkey Dee am Schlagzeug) dar.
Und alsbald erschließt sich auch, woher die Länge dieser Live-Version von „Sacrifice“ rührt: Mikkey Dee bekommt hier ausgiebig Zeit eingeräumt, mittels mannigfacher Schlagzeugsoli zu zeigen, was er technisch alles drauf hat. Als ob er das nötig hätte! Aber das, was er an den Trommeln zuwege bringt, beweist eindrucksvoll, dass Lemmy in zahlreichen Konzerten nur wenig untertrieben hat, wenn er Dee als „The best drummer in the world!!!“ ankündigte. Und irgendwann im Laufe des Stückes fangen Dees Drums und Campbells Gitarre an, sich förmlich zu duellieren, und dann setzt auch Lemmys Gesang wieder ein und nimmt den Faden des Songs wieder auf. Oh Hammer! „Sacrifice“ hat bei mir gerade eben sehr, sehr viel an Stellenwert gewonnen und ist ein tolles Beispiel dafür, wie hervorragend die legendäre Dreierbesetzung von Motörhead auch vor Publikum auf der Bühne stets funktioniert hat.
Durchgeschüttelt und von Ehrfurcht vor dem niemals wiederkehren werdenden Dreigestirn des puren Rock‘n‘Roll erfasst, freue ich mich nun auf das von mir überaus verehrte „Just ‘cos You Got The Power (Doesn‘t Mean You Got The Right)“ – und ich werde nicht enttäuscht. Dieser Song ist für mich ein Inbegriff dafür, dass Lemmy Kilmister Zeit seines künstlerischen Wirkens immer ein Muster an Glaubwürdigkeit, Bodenständigkeit und dafür, immer zur richtigen Zeit in der richtigen, ganz hervorragenden Art und Weise den Mund aufzumachen, um die Ungleichverteilung zwischen brutaler und rücksichtsloser Machtausübung und dem Unterdrücktwerden der Guten, Glaubwürdigen und Bodenständigen anzuprangern, gewesen ist und überaus beeindruckende stets das Gute in Form eines unverfälschten, glaubwürdigen und bodenständigen Rock‘n‘Roll verkörpert hat. Wer diesen verschrobenen Satz in nachvollziehbarer Form visualisiert bekommen möchte, sehe sich bitte den Film „Eat The Rich“, in dem Lemmy eine der Hauptrollen spielte, an. Spätestens nach diesem Song hat die Band das Jazz-Publikum für den Rock‘n‘Roll begeistert und mit „Going To Brazil“ folgt eine Motörhead-untypische Ode an den fröhlichen Hedonismus, dargestellt am Beispiel eines Interkontinentalfluges an Bord einer Boeing 747.
Der folgende Song „Killed By Death“ ist für mich kein Highlight des Motörhead-Songkatalogs, wird aber mit soviel Härte und Spielfreude dargeboten, dass ich anfange, mir zu wünschen, Motörhead würden niemals mit diesem Set aufhören. „Iron Fist“ wird danach als letzter Song angekündigt, es sei denn, das Publikum würde Noise machen, dann käme auch die Band wieder zurück. Nun weiß man aber, dass seit Jahrzehnten immer „Bomber“, „Ace Of Spades“ und „Overkill“ ein Motörhead-Konzert beenden, also kann nach „Iron Fist“ unmöglich Schluss sein. Und so ist es auch, nur dass anstelle des hier komplett fehlenden „Bomber“ die wunderschöne Ballade „Whorehouse Blues“ vom furiosen 2004er Album „Inferno“ tritt. Und vorher skandiert ein vollkommen entfesseltes und dem Rock‘n‘Roll zugewandtes Publikum „Motörhead, Motörhead!“ Sie machen also Noise.
Davor lässt Lemmy sich noch ein wenig feiern, im Anschluss daran packt Phil Campbell die Akustikgitarre aus, der Toningenieur gibt wie von Lemmy verlangt „more volume please on the vocals“ und dann folgt der wohl folkigste Motörhead-Song ever in der wohl folkigsten Variante ever. Lemmy zeigt, dass seine Stimme keine Akustik-Begleitung zu scheuen braucht, Campbell spielt auch auf der Akustischen tolle Soli und gegen Ende wird dann noch die Harfe geblasen. Und am Ende sind alle nicht zu sehr good looking, aber sie sind satisfied. Was will man mehr?
Na – zum Beispiel „Ace Of Spades“. Der Motörhead-Überhit springt die Hörenden geradezu aus der Tiefe des Raumes mit dem Arsch ins Gesicht, während sich diese noch an der Ruhigkeit und Gefühlsduselei von „Whorehouse Blues“ berauschen („We should’ve opened up a little whorehouse, honey – Get a little booty on the side“) und dann mit der harten Wirklichkeit des Kartenspiels konfrontiert werden.
Im Anschluss an diesen Klassiker stellt Lemmy dann die Band vor („23 fuckin‘ years – Phil Campbell. Monsieur Campbell“ und „The best drummer in the world – Mikkey Dee“), wird dann selber als „The one and only Mister Lemmy Kilmister“ vorgestellt, und im Anschluss lassen sich die Drei zu Recht feiern und Lemmy richtet eine formvollendete Ansprache an die Jazzliebenden, denen Motörhead hörbar ans Herz gewachsen sind: „Merci boucay [sic!]! Don‘t forget us, we are Motörhead. And we play fucking Rock and Roll!“
Dann wieder vielstimmige „Motörhead!!!“-Sprechchöre und dann schneidet Mikkey Dees Schlagzeug allen Geräuschen auf dieser Erde den Ton ab. Das Eröffnungsstakkato von „Overkill“ ertönt und wieder einmal mehr lassen Motörhead alles andere verstummen und verzaubern die Welt mit einem Wechsel aus Schlagzeuggeballer, röhrendem Gesang, krachender Gitarre im Wechsel mit jaulenden Soli und – wie es sich für ein Motörhead-Konzertfinale mit „Overkill“ gehört – dreimal Aufhören und viermal wieder anfangen und machen dabei die Hörenden glauben, so ginge es jetzt ewig weiter.
So wie auf diesem Album gehört möchte ich Motörhead für immer im Gedächtnis behalten. Bedankt, Mister Ian Fraser Kilmister († 28. Dezember 2015), für die schöne Musik. Danke!