Marshall Allen – New Dawn – Week-End Records 2025

Von Matthias Bosenick (31.03.2025)

Mit 100 Jahren sein Debütalbum herausbringen? Kann man machen. Nochmal so lange warten bis zum Nachfolger wird indes eher unwahrscheinlich. Debütant ist Marshall Allen allerdings lediglich als Solist, denn allein mit dem Sun Ra Arkestra ist der Saxophonist und Freejazzer unzählbare Male zu hören. Die größte Überraschung an seinem Album „New Dawn“ ist daher wohl, dass es sich weit weniger free oder spacig anhört, als es in dem Kontext zu erwarten wäre. Jazz ja, aber eher chillig-loungig oder beschwingt. Ohne den Beitrag der Tochter von Kumpel Don Cherry wäre es ein Instrumental-Album geworden, und Neneh veredelt den Titeltrack gekonnt. Allein die Streicher sind etwas gewöhnungsbedürftig, aber auch mit ihnen macht das vorwiegend mit Arkestra-Freunden eigespielte Album eine Menge Spaß.

Die Streicher kamen nachträglich erst hinzu, lässt die Musikpostille wissen. Bis dahin war das Album von versierten Leuten eingespielt, die sich um den Altsaxophonisten Marshall Allen gruppierten. Wie sie es bereits von ihrer gemeinsamen Arbeit beim Sun Ra Arkestra kannten, denn von dort holte sich der Einhundertjährige Knoel Scott, Bruce Edwards, Cecil Brooks und Michael Ray ins Studio dazu. Aber nicht nur, auch andere Mitmusizierende sind zu hören, etwa Ornette-Coleman- und The-Roots-Gast Jamaaladeen Tacuma. Nachdem das Album also aufgenommen war, landete es über Umwege in Köln, wo die Streicher dazukamen, eingespielt von lokalen klassischen Musikern, darunter Sabine Ahrendt vom Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld. Nun sind also Streicher drauf, die den Sound mildern, weichzeichnen, und es ist irgendwie nicht schlimm, auch wenn es die erwarteten Extreme verhindert. Aber gut, mit 100 darf man auch mal altersmilde werden.

Zum „Prologue“ getauften Auftakt bedient der Boss eine Kora, eine westafrikanische Harfenlaute, und Labelbetreiber Jan Lankisch verewigt sich dazu mit Percussions. Der folgende „African Sunset“ hat vielmehr etwas Lateinamerikanisches, auf jeden Fall schwingt eine schwere Schwüle mit. Ein chilliger Einstieg, chillig fortgesetzt mit dem Titeltrack, den Neneh Cherry mit ihrer Stimme bereichert. Zu gestopften Trompeten singt wie weiland „I’ve Got You Under My Skin“ auf der Cole-Porter-Tribute-Compilation „Red Hot + Blue“. Allen schwenkte mittlerweile zum Altsaxophon über und behält dies bis zum Finale bei.

Mit „Are You Ready“ poppt das Leben auf, das Stück ist ein schmissiger Blues, mit haufenweise Solos, darunter einem Trompetenbeitrag wie von Cab Calloway und einem Gitarrengniedeln. Das Stück könnte man sich so beinahe auf einem jüngeren Album von Bob Dylan vorstellen. In Richtung Late Night Swing Jazz geht danach „Sonny’s Dance“, und hier lässt Allen seinem Saxophon erstmals so richtig freien Lauf. Das überlange „Boma“, ursprünglich 2015 auf der Bonus-DVD zu „Live At Babylon“ vom Sun Ra Arkestra Under The Direction Of Marshall Allen veröffentlicht, ist ein energetischer Gniedler, ein epischer Kopfnicker, mit mitreißenden Solos von Schlagzeug und Geige; damit werden die Streicher nicht nur zum Hintergrundbegleiter, und das ist sinnig so.

Der Abschluss „Angels And Demons At Play“, erstmals 1965 auf dem gleichnamigen Sun-Ra-Album veröffentlicht, zeigt, wie das Album ohne Streicher geklungen hätte: durchlässig, lässig, mit Groove und verspielten Experimenten, nüchtern, einnehmend. Also sehr ansprechend, aber wie gesagt, es ist nicht schlimm, dass die Streicher nun enthalten sind. „New Dawn“ ist sicherlich Jazz für Leute, die sonst kaum Jazz hören, aber für die, die dies tun, ist es ebenso ein Gewinn.