Von Matthias Bosenick (10.07.2024)
Das Solo-Debüt „Deep Blue“ war vor vier Jahren bereits umwerfend, der Nachfolger „Netherworld“ ist dem mindestens ebenbürtig: Folklore und progressive Rockmusik sind nicht mehr nur Anteil, sondern stehen im Fokus der Kompositionen, die Louise Patricia Crane hier umsetzt. Flöten, Geigen, ausufernde, epische Songs, gefühlvoll und ganz und gar ungruftig, da lässt sich die Nordirin nicht festlegen, trotz ihres vorausgegangenen Einsatzes als Gast bei The Eden House, der Trip-Goth-Band von Ex-Leuten der Fields Of The Nephilim. Das hier ist anders, und das ist auch begrüßenswert gut so.
Das ganze Album ist eher ruhig gehalten, man ist förmlich dazu gezwungen, es laut zu hören, und dann wird man auch noch mit guter Musik belohnt. Schon der Einstieg findet auf unterster Lautstärke statt, wenn man die Anlage dann lauter regelt, weil man herausfinden möchte, ob da überhaupt etwas kommt, ertönt als nächstes ein wortloser Chor – also kein Schockmoment, sondern ein warmer Empfang. Die folgende Irish-Folk-Fiddle erinnert leicht an „Vagabonds“ von New Model Army, was nicht sonderlich verwundert, spielt doch deren Geigerin Shir-Ran Yinon auf diesem Album mit. Eingebettet in irische Rhythmen, intoniert Crane den Song auf eine Weise, wie man sie von Kate Bush aus den Achtzigern kennt, gleichzeitig klar und verhuscht, mit sich selbst im Chor. Der bei den späten King Crimson abgeworbene Co-Produzent, -Autor, -Sänger und -Musiker Jakko M. Jakszyk darf zwischenzeitig sein erstes Gitarrensolo einstreuen, dann setzt Crane ihren Wechselgesang fort. Man merkt gar nicht, dass dieser „Dance With The Devil“ wirklich mehr als sieben Minuten dauert.
Im zweiten Song „Tiny Bard“, einer Ode an ihre verstorbene Katze, deren Schnurren Crane hier verewigt, erweitert die Künstlerin das instrumentale Spektrum um Flöten, gespielt von Jethro-Tull-Storch Ian Anderson, und Glockenspiel zur akustischen Gitarre und unter Auslassung von Schlagzeug. Das Stück klingt märchenhaft, und genau das soll es, die Brüder Grimm sind für Crane so sehr Inspiration wie an anderer Stelle Haruki Murakami und Gabriel García Márquez. Die Drums bleiben nicht für den Rest des Albums weg, sie fügen sich in Cranes Auftrag ein, transzendent-märchenhaften Folklore-Kunstpoprock zu begleiten; eine groovende Dynamik wäre da fehl am Platze, ein treibender indes unterstreicht bei seltenem Bedarf den tanzbaren Folklore-Anteil.
Verantwortlich für die Rhythmusarbeit sind hier Bassist Tony Levin (King Crimson, Peter Gabriel und viele mehr) und Schlagzeuger Gary Husband (unter anderem mit John McLaughlin und wie Jakszyk bei Level 42), ersterer auch mal vertreten durch Nick Beggs (unter anderem Kajagoogoo, Steve Hackett und Steven Wilson). Das gelegentlich eingesetzte Saxophon spielt hier überdies Mel Collins (abermals King Crimson, unter vielen anderen) und die Uilleann Pipes John Devine. Als Stimme eines Wolfes ist Peter Blegvad (unter anderem Faust, The Golden Palominos und Henry Cow) zu vernehmen. Den Rest, Gitarren und Tasteninstrumente sowie den E-Bow, übernimmt die Chefin selbst.
Ein Haufen versierter Leute also, die sich die junge Frau Crane hier zusammensucht, ähnlich wie schon auf dem Debüt, und denen sie nicht die volle Power entlockt, um mit ihnen ein Prog-Rock-Monster zu generieren, sondern sich ganz auf einen Wechsel aus Ruhe, mystischer Energie, Entspanntheit, Tiefe, Opulenz und Brüchigkeit verlegt. Zum Abschluss erklingt das Sample einer japanischen Puppe, die Cranes Oma gehörte und die „My Fair Lady“ als Spieluhr anstimmt.
Es gibt „Netherworld“ in diversen Ausführungen. Im Grunde reicht die CD-Version aus, schöner ist indes die Storybook-Edition in einem Digipak in DVD-Format und mit dem Album im 5.1-Surround-Mix auf DVD als Bonus. Will man die Single mit den exklusiven Coverversionen „Ladies Of The Road“ (King Crimson) und „Dirty“ (Johnny Winter) als 7“ haben, erfordert der Griff in die Tasche zwischen 70 und 250 Pfund für verschiedene Boxset-Versionen von „Netherworld“; Teil der Vinyl-Ausgaben ist die Single indes nicht. Da lernt man den Verzicht. Auch den auf „Springtime“, die digitale Single, die Crane 2022 veröffentlichte, die ist in keiner Version enthalten. Was den Genuss nicht schmälert: „Netherworld“ gehört in die Top-Listen des Jahres.