Von Matthias Bosenick (10.06.2020)
Gruftmusik für Progrocker: Stark an die Ursprünge des Gothic Rock lehnt sich das neue Solo-Album von The-Eden-House-Sängerin Louise Patricia Crane an, nämlich an die experimentelle, folkige, progressive Rockmusik der Siebziger. Kein Wunder: Auf diesem angenehm chilligen Album gehen personell unter anderem die Fields Of The Nephilim, King Crimson und Jethro Tull eine wundervolle Liaison ein. Ein schönes, hymnisches, entspannendes Album, das trotz seines Kontextes als Seitenarm zu The Eden House gar nicht gruftig sein will, mit einem merkwürdig unpassenden Cover von einem renommierten Fotografen.
Fett, flott und fröhlich geht das Album los, man kann mitwippen, sich treiben lassen in Sounds und Harmonien. Die Gitarren rocken nicht heavy, sondern schaffen Atmosphären und gniedeln wie weiland im schönsten Progrock. Dazu stimmen Crane und ihre Mitmusiker einnehmende Chorgesänge an und Ian Anderson haucht in seine Flöte. Man denkt an Shoegaze und Postrock, an Heavenly Voices und sanften Indierock. Sogar an Siebziger-Folklore erinnernde Sounds treten auf, das Tempo nimmt mehr und mehr ab, man fühlt sich warm erinnert an Genesis mit Peter Gabriel, an Marillion, an Pink Floyd, die Snare klingt im Hintergrund gelegentlich wie die aus „Shout“ von Tears For Fears, Melodien und Gesang lassen Kate Bush durchschimmern, Crane überdreht ihre Stimme nicht wie etwa bei Nightwish, sondern bleibt bei sich, so entspannt, wie die Musik, in die sie ihren Gesang einbettet.
Alsbald geht die Sonne unter, denn nach „Sun“ und „Moon“ sind die beiden LP-Seiten und auch die CD-Hälften unterteilt, und mit dem Mond geht das noch experimentellere Kapitel des Albums auf. Crane wird zusehends ätherischer, das Schlagzeug nimmt sich zurück oder verstummt sogar ganz, Streicher kommen zum Einsatz, und sobald auch die Band sich hin und wieder zögerlich groovend dazugesellt, unterbricht sie sich alsbald selbst für ein weites Feld aus ambientartigen Sounds, die die Stücke nicht einfach abwürgen, sondern ihnen fließend individuelle Strukturen verleihen, bis der getragene Rock’n’Roll wieder die Oberhand gewinnt. Ja, Progrock, ganz eindeutig, Avantgarde, Folk, und trotz der durchweg getragenen Stimmung kein Goth.
Nicht nur das verwundert, schließlich trat Crane im Gothrock-Kontext auf, zuletzt bei The Eden House, einem Projekt aus früheren Mitgliedern der Fields Of The Nephilim, die mit ausschließlich weiblichem Gesang einen selbsternannten Trip Goth machten, der sehr wohl noch auf Cranes Solo nachhallt, was nicht weiter verwundert, da doch „Deep Blue“ aus der Session zum letzten Album von The Eden House heraus seinen Anfang nahm. Nächstens verwundert, wie nah sich Crane an den Sound begibt, der seinerzeit Inspiration für diejenigen war, die Gothic Ende der Siebziger erfanden – schließlich kam Crane selbst erst 1984 zur Welt. Und doch mag man „Deep Blue“ nicht als retro bezeichnen, denn diese Mischung aus Dunkelheit und Experimentierfreude war damals noch gar nicht so naheliegend.
Vielleicht gerade mal bei King Crimson, und was Wunder, spielt auf „Deep Blue“ doch Jakko M. Jakszyk die Gitarre und die Sitar, und der ist Adrian Belews Nachfolger bei ebenjener Band; außerdem hinterließ er Spuren unter anderem bei Level 42 und der 21st Century Schizoid Band, die sich wiederum an King Crimson orientiert. Jakszyk und Anderson nun bringen den Progrock auf das Album, aber daran sind ja noch mehr Spezialisten beteiligt: Scott Reeder spielte seinen Bass unter anderem bei Kyuss, Unida, The Obsessed und heute bei Fireball Ministry, Kontrabassist Danny Thompson wiederum teilt sich die Credits mit Jakzsyk bei Dizrhythmia sowie bei den Folkrockern Pentagle und bei Alexis Korner und spielte auf Alben von unter anderem Kate Bush, Loreena McKennitt, Nick Drake, Marianne Faithfull, Peter Gabriel, Talk Talk, Rod Stewart, ABC, T Rex, Graham Coxon und unzähligen weiteren Größen. Als dritter Bassist ist Steve Gibbons dabei, alias Steve Mercy, der sich mit seinen Bands Abigail’s Mercy und 13 Candles noch am ehesten im Gothic Rock verorten lässt und auch bei The Eden House mitmischt.
Ebenso natürlich Simon Rippin, der nun wirklich tief in der düsteren Ecke verankert ist, als Schlagzeuger von Fields Of The Nephilim, The Nefilim, NFD, Adoration, Sensorium, October Burns Black und eben The Eden House. Sein Langzeitgefährte Stephen Carey übernahm zudem die Produktion von „Deep Blue“. Zurück zu Dizrhythmia schwenkt wiederum John Devine, der auf „Deep Blue“ die Uillean Pipes spielt. Die Mannheimer Violinistin Shir-Ran Yinon fiedelte bereits live mit New Model Army und ist ansonsten bei vielen deutschen Mittelaltercombos zu hören.
Crane selbst nun war bereits vor The Eden House aktiv, ab 2006 bei Solemn Novena und anschließend kurzzeitig bei Raven Adore. „Deep Blue“ ist mithin ihr Solodebüt, und das ist derartig großartig, dass man sich nur verwundert fragt, warum sie dafür ein so semifreizügiges Cover wählt. Immerhin, das Foto stammt von Jim Fitzpatrick, und der war der Covergestalter von Thin Lizzy – und verantwortet das ikonische Porträt von Che Guevara. Doch ist Crane auch selbst künstlerisch tätig, und da ihr eine Chromästhesie diagnostiziert wurde, fertigte sie für die limitierte Vinylbox zu jedem Song ein Kunstwerk an, das sie anhand der Töne vor ihren inneren Augen sah. Für die Veröffentlichung gründete Crane zudem kurzerhand ihr eigenes Label Peculiar Doll Records, benannt nach einer Figur aus dem Computerspiel „Dark Souls“.
„Deep Blue“ stellt eines der jetzt schon in die Bestenlisten gehörenden Alben dieses Jahres dar. Es funktioniert als – recht kurzes – Ganzes und mag zwingend in Dauerschleife gehört werden. Ein beachtliches Debüt mit versierter Beteiligung.