Von Matthias Bosenick (29.01.2019)
„Er“ steht im Mittelpunkt, auch in Abwesenheit: Der göttliche Paolo Sorrentino dreht einen Sittengemälde-Politfilm, der sich lose an dem Bild orientiert, das die Öffentlichkeit von Italiens mehrfachem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi hat. Zwar fällt die Vokabel „Bunga Bunga“ nie, doch kann Sorrentino ausgelassene Feste bei dem Thema natürlich nicht auslassen. Damit beschert er gewohnt opulente Bilder und versetzt diese, anders als zunächst erwartet, mit Handlung und Dialogen. Und obwohl der Zweiteiler in Deutschland lediglich in einer auf gut zweieinhalb Stunden gekürzten Fassung läuft, ist er immer noch lang – und keine Minute überflüssig. Beeindruckender Mix aus Bewunderung und Abscheu.
Man kann nicht anders als staunen, dass es Sorrentino gelingt, den Zuschauer über die gesamte Spielzeit zu fesseln. Sind es nicht die bisweilen sogar nur im Hintergrund laufenden angedeuteten politischen Ränkeschmiede, von denen man keinen verpassen darf, dann sind es die Bilder und bisweilen surrealen Einfälle, mit denen der Regisseur die Augen des Publikums an die Leinwand klebt. Aufmerksamkeit belohnt Sorrentino zudem mit wiederkehrenden Elementen; diese im Kleinen elliptische Erzählweise wendet er auch auf das Große an, denn der Film braucht ein Drittel seiner Spielzeit, bis Berlusconi überhaupt auftritt, und die zu Beginn eingeführte Hauptfigur taucht dafür im letzten Drittel unter.
Los geht es nämlich mit einem politischen Emporkömmling, der sich an „ihn“, „lui“, wie Berlusconi in einem Handy gespeichert ist, heranwanzen will und der sich dafür der Mittel bedient, die in der öffentlichen Wahrnehmung „seine“ Vorlieben darstellen, nämlich junge Frauen und teure Partys. Dieser Sergio Morra lebt selbst ein Leben, das diesem Bild entspricht, mit Drogen, Prostitution, Partyexzessen, Bestechung und Fremdgehereien. Er trommelt so laut, dass er eine Vertraute Berlusconis auf sich aufmerksam macht, die ihn zwar in seine Schranken weist, sich aber seiner Bitte um Kontaktaufnahme annimmt. Also organisiert Morra in der Nachbarvilla zu Berlusconis Anwesen auf Sardinien ein Fest, mit dem er sich als Partyausrichter für den tatsächlich aufmerksam gewordenen Multimillionär empfiehlt.
Hier schwenkt die Perspektive des Films von Morra auf Berlusconi. Sorrentino zeigt den Immobilienhändler zwischen zwei Amtsperioden als Ministerpräsident, wie er versucht, diesen Posten zurückzuerobern. Man sieht den Fernsehmogul Minister brüskieren, Senatoren überreden, sich mit seiner Gattin duellieren, die Beleidigungen seiner Gegner an sich abperlen sowie sich von Schmetterlingen umflattern lassen, von eben jungen Frauen, denen er entsprechende Amulette schenkt . Während er sich zurück ins höchste Amt des Landes mogelt, dreht sich für Morra der Wind: Die von ihm ausgerichtete Party langweilt den Presidente, der eben schon längst wieder ganz andere Intentionen verfolgt. Fortan geht Morra für den Film verloren, ganz wie einst die Tasche in „No Country For Old Men“, und man vermisst ihn auch nicht, weil Berlusconis Schachzüge viel zu fesselnd sind.
Natürlich zeigt Sorrentino viel zu viel nackte Haut, natürlich ist diese Art der Darstellung sexistisch. Nur spiegelt sie allerdings auch die Realität, in der sich trotz #metoo Frauen finden, die sich für solche Exzesse, reichlich Koks sowie Sex mit vermeintlich einflussreichen Personen hergeben. Sicherlich ist das Maß der Darstellung diskutierbar, doch stellt man fest, dass es Sorrentino doch nicht so sehr übertreibt, wie man zunächst befürchtete. Er beweist sich schlichtweg mehrfach als versierter filmischer Party-Inszenierer, wie schon in „Il Divo“ und „La Grande Bellezza“. Das kann er, aber eben auch noch viel mehr.
Mit Toni Servillo verpflichtete Sorrentino seinen Stammschauspieler für die Rolle als Berlusconi. Und der wirkt wie hineingewachsen, stellt eine beinahe grimassenartige Maske zur Schau, die den zunächst aufgedreht wirkenden Dottore beinahe wie Luis de Funés wirken lässt, bis er in den Ernst des Politagitatoren driftet und die Maske zwar Risse zeigt, die Berlusconi aber schnell überspielt. Interessant sind da insbesondere jene Szenen, in denen Kritiker an der Fassade des Vorbestraften kratzen; dazu gehören nicht nur Politiker, sondern auch ganz besonders seine Gattin sowie ein Partymädchen, das ihn in seine Schranken weist. Da überzeugt das Dialogdrehbuch, aber nicht nur dann: Nachdem sich Berlusconi von seinem Alter Ego Ennio Doris davon überzeugen lässt, dass er nach wie vor ein Verkaufsgenie ist, probiert er diese Fähigkeit flugs am Telefon bei einer beliebigen Bürgerin aus.
Sorrentino drehte keine schlichte Jubelarie auf den korrupten Politiker, auch wenn er das wohlwollende Auge zulässt, etwa in der Szene mit dem Gebiss der alten Frau nach dem Erdbeben in L’Aquila 2009 (das Meeresrauschen im Gebirge ist ein hübscher Bonus im Abspann). Mit dieser Ambivalenz entblößt Sorrentino die Wirkung solcher Massenverführer; Silvio, der hier selbstredend eine Filmfigur ist, die sich am realen Ministerpräsidenten orientiert und deren Nachname nie genannt wird, ist da lediglich ein stellvertretendes Beispiel für die weltweit grassierende brandgefährliche Hörigkeit solchen vermeintlich starken, in Wahrheit am Rande der Lächerlichkeit agierenden Männern gegenüber.
Und dann ist Sorrentino auch noch ein begnadeter Visionär, im Sinne des Visuellen. Seine Filme guckt man sich schon allein wegen der eindrucksvollen und ästhetischen Bilder an, auch was die Farben betrifft, die hier wieder schöner sind als beim Vorgänger „Youth“. Man saugt Sorrentinos Filme auch dann auf, wenn man einmal etwas nicht verstehen sollte (was in „Loro“ seltener der Fall ist als in „Il Divo“ und „La Grande Bellezza“, an die „Loro“ trotzdem nicht heranragt – oder gerade deshalb?). Sorrentino wagt Perspektiven, Schnitte, Lichtspielereien, die von einheitlichen Sehgewohnheiten abweichen, und scheut selbst das Surreale und das Symbolische nicht: Als Berlusconi erstmals in Erscheinung tritt, geschieht dies per Eskorte, die ihn in einen Club begleiten soll. Dem Tross begegnet ein Müllwagen, der einer Ratte ausweicht, von der Straße abkommt und von der Brücke stürzt. Morras Frauen beobachten dies und erleben eine Explosion von Müll auf sich niederregnen – die nach einem Schnitt zu einer Explosion von Ecstasypillen an einem Partypool mutieren.
Nicht zu vergessen die grandiose Musikauswahl, die von The Stooges und LCD Soundsystem über aktuelle Chartshits (die es zum Zeitpunkt des Geschehens teilweise noch nicht gab) bis zu minimalistischer Klassik reicht. Man kann gar nicht sämtliche gelungenen Kniffe dieses Films aufzählen, muss aber auch anführen, dass Sorrentino es sich an wenigen Stellen damit auch mal einfach macht. Wenn er Figuren Hintergründe vor sich hin brabbeln lässt, die der Zuschauer für das Filmverständnis braucht, wirkt das viel zu plump für ein Genie wie Sorrentino. Aber das nimmt man hin.
Interessant ist nun noch die Urversion von „Loro“, der in Italien in zwei Teilen zu je gut 100 Minuten lief, also in Summe 205 statt hier 160 Minuten Spielzeit hat. Die wird man hier allerdings nicht zu sehen bekommen, steht zu befürchten, offenbar nicht einmal auf DVD.