Von Matthias Bosenick (15.11.2018)
An diesem Film stimmt so gut wie alles. Bilder, Charaktere, Atmosphäre, Ideen, Erzähltempo, nun: Story, okay: Musik, historischer und kultureller Hintergrund – „Leto“ ist kunstvoll, unterhaltsam, lustig, fantasievoll, emotional, vernünftig, sympathisch, atemberaubend gut. Und trotz eher zurückhaltender politischer Haltung mittlerweile ein unfreiwilliges Politikum, da Regisseur Kirill Serebrennikow noch während der Dreharbeiten für die Veruntreuung von Staatsgeldern als Theaterregisseur verhaftet wurde. Der Film lehnt sich locker an den Biografien der Leningrader Musiker Mike Naumenko (Михаил „Майк“ Науменко) und Viktor Tsoi (Виктор Цой) an und erzählt – überwiegend in Schwarzweiß – von Rock in der Sowjetunion und Liebe in Muckerkreisen, bloß anders, als das jetzt klingen mag.
Die Handlung ist recht schnell erzählt: Mike und seine Band Zoopark sind in der sowjetischen Szene Anfang der Achtziger so etwas wie etabliert. Viele junge Talente wenden sich an ihn, weil sie sich einen Karrierekick versprechen, und für Viktor und einen Begleiter erfüllt sich dies bei einer forcierten Begegnung am Strand. Während der introvertierte Mike seinen ebenfalls recht zurückhaltenden Schützling durch die Instanzen fördert, entwickelt Mikes Ehefrau romantische Wünsche in Bezug auf Viktor – die sich in eine völlig unerwartete und vermutlich einzigartige, weil vernunftgesteuerte Richtung entwickeln. Wie Serebrennikow diese Aspekte verbindet und erzählt, ist besonders.
Zwar gibt es die geradlinige Geschichte von Rockmusikern auf der staatlich überwachten Karriereleiter und dem Privatleben nebenbei, die der Film auch – zumindest bis kurz vor Schluss – chronologisch erzählt, doch versetzt Serebrennikow die Geschehnisse zwischendurch mit visuell und inhaltlich überraschenden Sequenzen. So lässt er immer wieder zwei gegensätzliche Figuren auftreten, die die Gefühlslage der Hauptfiguren beinahe surreal überzeichnen, und zwar den Skeptiker und den Punk. Der Punk agiert wie ein Kobold, der die gesellschaftlichen Konventionen durchbricht, und der Skeptiker fantasiert Situationen herbei, in denen unmögliche Dinge geschehen. Insbesondere dieser Skeptiker drückt die Ohnmacht der beteiligten Personen aus, sei es gegen staatliche Repression oder in emotionalen Belangen, und betont am Ende jeder dieser Sequenzen, dass sich jene so nicht ereignet haben. Als gestalterische Besonderheit versieht Serebrennikow diese Szenen mit visuellen Experimenten, etwa mit grafischen Animationen auf den schwarzweißen Bildern oder mit Super-8-Farbfilmausschnitten.
Da der Hauptteil des Films in Schwarzweiß und mit beinahe fotografisch komponierten Bildern eine wohlige Atmosphäre generiert, fallen diese Zwischensequenzen umso deutlicher auf. Sei es eine Schlägerei in der Bahn – übrigens neben dem zweiten Auftritt des Skeptikers mit der Pistole der einzige Moment mit so etwas wie Gewalt im gesamten Film –, die beinahe musicalartige Fahrt mit einer Tasse Kaffee in der Straßenbahn zu Iggy Pops „The Passenger“, der surreale Auftritt der nächtlichen Telefonzellennutzerin im Regen mit anschließendem Engelsflug im Treppenhaus oder die nachgestellten Cover von Westschallplatten: Diese Szenen wirbeln den Zuschauer aufgeregt herum und entlassen ihn dann wieder in den trotz der eher zurückhaltenden Figuren mitreißenden Fluss des Films.
Historisch interessant sind die Parallelen und Unterschiede, die der Film in Bezug auf Rockmusik zwischen Ost und West herausarbeitet. Natürlich sind die Leningrader trotz des angeblich undurchlässigen Eisernen Vorhangs auch beeinflusst von David Bowie, Lou Reed, T-Rex, den Sex Pistols und Blondie, aber sehen sie sich einem Publikum ausgesetzt, das von staatlichen Aufpassern während des Konzertes zum Stillsitzen gezwungen wird, und müssen sie sich ihre Texte von einem Zensurkomitee abnehmen lassen. Serebrennikow arbeitet Songtexte von West-Hits in die russischen Dialoge ein und zitiert damals in der Sowjetunion berühmte Musiker, die man im Westen eher nicht kennt; zusätzlich zur Story bietet der Film also einen großen Fundus an Kulturverweisen, die es nachzuarbeiten gibt.
Mike, Natascha und Wiktor gab es wirklich, die Bands Zoopark (Зоопарк) und Kino (Кино) waren in der Sowjetunion populär und einflussreich. Dennoch lehnt sich der Film lediglich an den Biografien an, die Natascha zusammentrug, nachdem die beiden Musiker Anfang der Neunziger starben; es ist – trotz eingestreuter Songs der Bands – weniger Serebrennikows Absicht, ein Biopic abzuliefern, als den Geist der damaligen Zeit einzufangen und aus heutiger Sicht zu betrachten. Und das ist sowas von beeindruckend gelungen: Grandiose Filmkunst mit Rock’n’Roll. Erinnert entfernt an „Control“ von Anton Corbijn. Und „Leto“ heißt übrigens Sommer, nach einem Lied, das Mike 1982 auf seinem Solo-Album „LV“ veröffentlichte.