Von Guido Dörheide (03.04.2023)
Den Tunnel unter dem Ocean Boulevard, den Lana del Rey auf dem Titelstück besingt, gab es wirklich, von 1927 bis 1967, und allein der Text dieses Stücks rechtfertigt bereits den auf dem Albumcover prangenden Parental-Advisory-Sticker: Der Refrain beginnt mit einem leicht ins Abstoßende gehenden „Open me up, tell me you like it, fuck me to Death“. Solche Gewaltphantasien kennt man von Ms. Grant, und niemand sonst kann sie vortragen, ohne dabei seine Würde einzubüßen, außer sie selbst. Mit der anschließenden Zeile „Love me until I love myself“ wird es dann auch schon viel nachdenklicher. Und das Ganze brüllt sie nicht etwa zu harter Musik heraus, sondern haucht es wie beiläufig zu Klavier- und Streichermusik hin, mit ihrer Stimme, die eine meiner Lieblingsstimmen ist und die immer so klingt, als wäre sie eigentlich schon nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern längst irgendwo ganz woanders. Und der Text des Titelstücks steckt voll von Mysteriositäten, angefangen damit, dass ein Mädchen „Hotel California“ singt, das sich ja eigentlich, so Frau del Rey, nach Florida anhört, dann wünscht sie sich einen Freund wie Harry Nilsson, weil seine Stimme bei Minute 2:05 von „Don‘t Forget Me“ so schön bricht, und vor dem Refrain fleht sie „When‘s it gonna be my turn – don‘t forget me.“
Wie immer erschließen sich mir die Texte nicht vollständig, klingen aber wunderschön und werden noch wunderschöner mit dieser einzigartigen, niemals auch nur ansatzweise nervenden Stimme (nicht mal, wenn del Rey auf „Kintsugi“ bei Minute 4:03 ganz kurz versucht, die restlichen im Schrank verbliebenen Gläser zu zersingen) vorgetragen.
Die Instrumentierung umfasst auf den ersten drei Stücken tatsächlich nur Klavier und Streicher, und mehr braucht es auch nicht. Und so beginnt auch Stück 4, „A&W“, bis dann nach ca. 4 Minuten (nach schier endloser hingemurmelter Wiederholung der Zeilen „It’s not about havin‘ someone to love me anymore – No, this is the experience of bein‘ an American whore“ ein düsterer Elektrobeat einsetzt und ein gewisser Jimmy zum Gegenstand des Textes wird, der die Protagonistin nur liebt, wenn er high werden möchte. Klingt wieder alles nicht wirklich nach schönen Erfahrungen, aber so hypnotisierend monoton vorgetragen, dass man gerne dazu tanzen möchte. Dann folgt das „Judah Smith Interlude“, ein vierminütiger Sermon des anscheinend komplett umnachteten Pastors Judah Smith über Sünde, Lust und andere populäre Gesprächsthemen seines Berufsstandes, im Hintergrund hört man del Rey und ihre Freundinnen kichern. Eine wirre Predigt mit Musik zu hinterlegen und für sich selbst sprechen zu lassen, finde ich schon seit den alten Tagen von The Cassandra Complex („Beyond Belief“, 1986) und Front 242 („Welcome To Paradise“, 1988) nicht unwitzig, so auch hier, auch wenn es im Hirn weh tut, die Tiraden aufmerksam bis zum Ende durchzuhören.
Beim nächsten Stück, „Candy Necklace“, wird Lana del Rey von Jon Batiste unterstützt, dann folgt ein weiteres „Interlude“, diesmal von eben diesem Jon Batiste gesprochen, mit Lanas Gesang im Hintergrund. Das hat auch wieder etwas Predigthaftes, aber mit weniger beknackt-verblendetem Text.
Jon Batiste bleibt nicht der einzige Duettpartner: „Paris, Texas“ hat del Rey zusammen mit SYML (Brian Fennell) aufgenommen, bei „Let The Light In“ (ein Folksong mit einer supertollen Melodie und einer sehr schönen akustischen Gitarre) steht ihr Father John Misty zur Seite und der gemeinsam gesungene Refrain gerät wunderschön hymnisch. Bei „Margaret“ wiederum baut del Rey gleich eine ganze Band mit ein, nämlich Bleachers, die Truppe um Jack Antonoff, der auch am Album mitgeschrieben, haufenweise Musik beigesteuert und es produziert hat. In meinen Augen macht man nichts falsch, wenn man Jack Antonoff engagiert, Lana del Rey hat unter seiner Aufsicht in der Vergangenheit tolle Sachen aufgenommen und auch Taylor Swifts Antonoff-produzierte Alben zählen zu ihren besten. Aber zurück zum Tunnel unter der Ozean-Prachtstraße und Frau del Reys Co-Artisten: Auf „Peppers“ ist es die kanadische Rapperin Tommy Genesis. Das Stück sticht auch dementsprechend hervor, beginnt gleich elektronisch und Genesis‘ Sprechgesang und del Reys typischer Vortrag ergänzen sich sehr gut.
Am Ende folgt dann noch ein Knaller: „Taco Truck x VB“ besteht aus zwei Teilen: Dem lateinamerikanisch angehauchten „Taco Truck“ und der zweite Teil ist tatsächlich eine Neuauflage von „Venice Bitch“ vom 2019er Album „Norman Fucking Rockwell!“. Gefiel mir damals schon gut und bildet hier einen würdigen Abschluss mit Wiedererkennungswert und monotonen Beats.
Ich bin jetzt hier nicht auf alle Songs eingegangen, weshalb ich „Grandfather Please Stand On The Shoulders Of My Father While He’s Deep-Sea Fishing“ noch erwähnen möchte, nicht nur, weil es ein schöner Song ist, sondern vor allem auch wegen des originellen Titels, den del Rey im Refrain auch komplett unterbringt und noch durch ein „for Sharks in the Pacific“ ergänzt.
Aufgrund der vielen ruhigen Klavier/Streicher-Arrangements brauchte das Album bei mir zwei bis drei Durchläufe, bis ich seine volle Schönheit (Musik) und Düsternis (Gesang/Texte) vollends erfassen konnte, aber seitdem lässt es mich nicht mehr los und will einmal pro Tag gehört werden.