Von Matthias Bosenick (27.07.2013)
Dieser Film ersetzt rund zehn Tage Italienurlaub, ist auch beinahe so lang, kommt einem aber deutlich kürzer vor. Regisseur Paolo Sorrentino als 43-Jähriger zählt ja beinahe noch zu den jungen Regisseuren, „La grande Bellezza“ ist auch erst sein dritter Film, der hierzulande überhaupt Beachtung findet. Also freut es umso mehr, einen Quasi-Newcomer dabei zu beobachten, wie er seinen preisenswerten Stil ausbaut und einmal mehr einen Film klassischer europäischer Machart dreht, bei dem Ästhetik, Aussage, Inhalt und Schauspieler stimmen. Da erscheinen 147 Minuten glatt kurzweilig. Der Film hätte auch länger dauern können, ganz wie ein zehntägiger Italienurlaub.
Eigentlich hat „La grande Bellezza“ keine richtige Handlung. Vielmehr zeigt der Film Hauptfigur Jap, einen ausschweifend lebenden Schriftsteller, der sich nach seinem 65. Geburtstag neu positionieren will, nachdem er erfährt, dass seine erste Freundin starb und 35 Jahre lang, nach ihrer Trennung, nur ihn geliebt hat. Jap tritt mit seinem Umfeld in Beziehungen und zieht Erkenntnisse daraus – das ergibt im Grunde die Handlung. Dabei sind die spärlichen Dialoge brillant, zynisch und humorvoll und die Inhalte analytisch und philosophisch. Der Film rechnet dabei in einem Rundumschlag mit der gegenwärtigen Gesellschaft ab, insbesondere der dekadenten römischen, aber auch allgemein.
Die Geschichten, Dialoge und Ereignisse bieten jede Menge Interpretationsansatz. Jap hat im Leben nur einen Roman geschrieben und den offenbar so gut vermarktet, dass er bis ins hohe Alter hinein ausschweifend und – bis auf gelegentliche Interviews für ein Magazin – tatenlos davon leben kann. Dabei ist er nicht wirklich tatenlos; seine Spaziergänge durch ein Rom, das in der Realität bei weitem nicht so entvölkert und einsam ist, wie der Film es darstellt, zeigen Japs poetischen Blick auf sein Umfeld und das Leben. Er verwertet es allerdings nicht schriftstellerisch. Ein ausgebliebener zweiter Roman ist dennoch permanent Thema, und erst, als der Film katholisch wird, offenbart sich für Jap, worum es geht: den Blick auf die eigenen Wurzeln. Dazu zwingt ihn ja auch die Nachricht von der verstorbenen Verflossenen. Anspielungen und Hinweise auf das Wurzel-Thema finden sich immer wieder im Film, auch auf andere Figuren bezogen. So steigen drei Partys mit Technomusik, und die Stücke sind allesamt Remixe alter Hits, etwa „To vuo fa‘ l’Americano“ von Renato Carosone.
Das alles allein wäre schon ein ansehnlicher Grund, ins Kino zu gehen, doch Sorrentino liefert mehr, insbesondere, wenn es um das Attribut ansehnlich geht. Wie schon in „Il Divo“ und „This Must Be The Place“ (auf Deutsch „Cheyenne“) lebt er auch in „La grande Bellezza“ sein Faible für Opulenz aus, passend zum Titel, „Die große Schönheit“. Die Kamerafahrten sind einzigartig besonders, um Ecken herum, auf Augenhöhe, über Abhänge, kopfüber kippend, die Handlung begleitend und untermalend. Seine Bilder sind komponiert, nichts ist zufällig. Auch im Spiel mit Licht und Dunkelheit wirkt alles wie beiläufig perfekt. Manches scheint auch nur deshalb Bestandteil im Film zu sein, weil Sorrentino weiß, dass es gut aussieht, und er bringt diese bisweilen surrealen Elemente mit einer Natürlichkeit unter, dass sie die Handlung und das Verständnis nicht stören, aber das Auge und das Herz erfreuen. Nicht nur visuell, auch akustisch sind die Akzente punktgenau gesetzt, mit Chorälen, Musikeinsatz, Möwengeschrei, Katzenjaulen.
Insgesamt ist dieser Film „Il Divo“ näher als „This Must Be The Place“. Ersterer und Vorliegender teilen Hauptdarsteller Toni Servillo und die Lust an dekonstruierter Dekadenz und Technopartys mit megareichen Senioren. Dabei ist „La grande Bellezza“ aber stringenter und besser verständlich als die Andreotti-Biografie. Sorrentino gibt seiner Hauptfigur ein Tempo, das er mit dem Erzähltempo teilt, und dabei bleibt nicht eine Minute des Films langweilig oder überflüssig.
Es gäbe noch sehr viel festzustellen, verschwindende Giraffen, von einer 104-jährigen Heiligen dressierte Flamingos, kopfüber gedrehte Partys, nervige Nackte, egozentrische Reiche, als Geldquellen missbrauchte malende Kinder, visuelle und erzählerische Anlehnungen an – natürlich – Fellini, Kubrick, Lynch, entlarvende Interviews mit selbstherrlichen Performance-Künstlerinen. Sicher ist: Das wird eine weitere DVD im Regal, wenn sie denn erscheint; nur braucht man mindestens eine Leinwand, um das Prunkstück in Gänze zu erfassen.