Von Guido Dörheide (08.07.2024)
Auf KMFDM ist Verlass, sie hören sich immer so an wie immer und sie liefern und liefern und liefern. Quasi der VW Käfer unter den Deutsch-Amerikanischen Freundschaftsprodukten. Zuerst hörte ich von der Band mit dem merkwürdigen Namen „Kein Mehrheit für die Mitleid!“ in den 80er Jahren auf Super Channel (erinnert sich noch jemand an diesen Sender?) in einem Bericht über das Berliner Atonal-Festival, auf dem KMFDM neben den Neubauten, Die Haut und anderen wundervollen bundesdeutschen Beiträgen zur Weltkultur auftraten. Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich im Jahr 2024 ein neues Werk von KMFDM rezensieren würde. Wobei das nicht Wunder nimmt, denn schließlich veröffentlichen KMFDM seit 1984 ungefähr im Zweijahresrhythmus neue Musik, „Let Go“ ist ihr ungefähr 25. Studioalbum. Also eine weitere vergessene Untergrundinstitution, die ihre langjährige Nichtrelevanz hinter blindaktionistischer Veröffentlichungstätigkeit verstecken muss?
Nein!
Sascha Konietzko und Lucia Cifarelli (unterstützt von Andee Blacksugar an der Gitarre und Andy Selway am Schlagzeug) liefern mit „Let Go“ tatsächlich ein wunderbares Stück Musik ab, das irgendwo zwischen Industrial und Synth Pop, Dark Wave und sonstigen Indie-Stilrichtungen liegt und urst Laune macht, hoffentlich nicht nur, wenn man, wie ich, die 50 seit einiger Zeit überschritten hat.
Also zuerst muss ich mal loswerden, dass im Stück „Next Move“ irgendwo irgendwie irgendwas von Kraftwerk verwurschtet ist. „Trans Europe Express“ oder sowas.
Aber fangen wir von vorne an: Mit dem Titelsong „Let Go“ fängt das Album überaus schmissig an. Sascha Konietzko singt wirklich toll, unaufgeregt und authentisch, dazu klingen Synthesizer und Gitarren im Zusammenspiel mit einem echten Schlagzeug; wer in den 80ern Nitzer Ebb, die Weathermen oder eben KMFDM gehört und geliebt hat, kommt hier auf seine Kosten. Hier feiert eine Band nicht auf abgeschmackte Weise ihre alten Erfolge, sondern macht einfach weiter ihr Ding, als gäbe es kein Morgen, und wertet dabei auch ihr Gestern nicht ab.
Nachdem Konietzko auf dem Titelstück gesangsmäßig wunderbar und überzeugend abgeliefert hat, übernimmt bereits auf dem zweiten Stück „Push!“ Lucia Cifarelli den Gesangspart und überzeugt dabei absolut. Irgendwie ist das Stück hart, irgendwie aber auch poppig, und Cifarelli liefert den passenden Gesang dazu, hört sich an wie jemand, die das, was sie kann, in keinster Weise in Frage stellt. Toll. Dann wieder Konietzko in „Next Move“, also dem Stück mit der Kraftwerk-Ähnlichkeit, heiser rausgepresst und wirklich sehr gut. Das folgende „Airhead“ gibt wieder Lucia Cifarelli eine Bühne: Blondie/Phillip Boa/Irgendwas aus den 70ern und 80ern, wunderschön mit tollem Gesang und mitreißender Melodie. „Turn The Light On“ überlässt dann wieder Konietzko das Zepter und 70er-Jahre-Vibes breiten sich aus. Vintage-Psychedelic-Disko oder irgendsowas, aber saugeil auf jeden Fall und druckvoll mit Bass, Bass. „Touch“ ist ähnlich, aber von Cifarelli gesungen und deshalb ganz anders. Synthpop mit Stadionmitsingtauglichkeit, wie er sein sollte. Cifarellis Gesang klingt wunderschön und bildet deshalb den Gegenpol zu dem, was die Hörenden an abartigen Perversitäten hernach erwartet:
„Du liebes Kind, komm geh‘ mit mir! Gar schöne Spiele, spiel ich mit dir. / Willst feiner Knabe du mit mir geh’n? Meine Töchter sollen dich warten schön,
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein. /
Ich lieb dich, mich reizt deine schöne Gestalt, Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt! /
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an, Erlkönig hat mir ein Leids getan.“
Richtig geraten, das alles stammt nicht von Till Lindemann, sondern vom J.W.v. Goethe. Ohne Worte, und ich bin KMFDM sehr dankbar, mir die Schmierigkeiten des Dichterfürsten mal so unverblümt (hihi, haha, Knabenmorgenblütenträume, Goethe geh’ scheiß’n) vor Augen geführt zu haben, was für eine Sau.
Das KMFDM-Album geht so weiter, wie es begonnen hat, supertoll produziert, groovig, industriell, poppig, über jeden Zweifel erhaben gesungen; in anderen Worten: Relevant und zeitgemäß.