Von Matthias Bosenick (09.10.2023)
Unglaublich: Eine deutsche Serie, die nicht nur weit über handelsübliches „Tatort“-Niveau herausragt, sondern sogar die meisten Kinoproduktionen dieses Landes in den Schatten stellt! Filmisch ist die vor einem Jahr auf Netflix gestartete Serie „Kleo“ herausragend, visuell bereits, aber auch, was das Drehbuch betrifft, ein turbulenter Genremix, der mit Drama, Action und Witz die Realität verbiegt und Quentin Tarantino in die DDR verlagert. So überzeugend, dass man sogar die Logikschwächen bereitwillig akzeptiert und sie in den Dienst der guten Sache stellt: nämlich bestmögliche Unterhaltung. Mit einem schmerzhaften Stich ins Moralempfinden.
Die Titelfigur Kleo ist eine Stasi-Killerin, deren Auftrag es ist, im Feindesland, also Westdeutschland, Menschen umzubringen, feindliche Agenten zumeist, und mit dem Mord in einem Westberliner Club im Jahre 1987 startet die Serie gleich temporeich. Dummerweise hat Kleo das Pech, dass sie als Phantombild auf Westdeutschen Fahndungsplakaten landet, und verschwindet im Stasiknast, wo sie auch noch ihr ungeborenes Kind verliert. Mit der Generalamnesie für politisch Gefangene nach der Wende kommt sie frei und versucht, herauszufinden, wem sie den Knastaufenthalt zu verdanken hat; dabei fallen ihr auf blutigste Weise reihenweise Stasi- und Politgrößen der DDR sowie Doppelagenten von CIA und BND zum Opfer. Zur Seite steht ihr später der an Selbstüberschätzung leidende West-Polizist Sven, dem sie überhaupt erst das Phantombild zu verdanken hat und der sie eigentlich ja jagt. Bald geht es um einen roten Koffer, nein: um DEN roten Koffer, den von Stasi-Minister Erich Mielke nämlich, in dem das Duo brisante Unterlagen wittert. Spoiler: Es wird eine zweite Staffel geben.
Was von Anfang an überwältigend positiv auffällt, ist die Filmqualität. Die Farben sind satt, die Ausstattung ist üppig, nicht allein einer irregeleiteten Ostalgie folgend, sondern opulenter Schmuck fürs Auge, bis hin zu den gemusterten Tapeten, und die Kamera filmt die Szenen zudem kunstvoll, mit einer ästhetischen Bildkomposition, Nah-Fern-Dynamik, Leere und Asymmetrie – nichts erinnert an biederes Fernsehen, auch nicht an kaum weniger biederes Kino. Bemerkenswert sind auch die Erinnerungs- und Traum-Sequenzen Kleos, in denen begrenzte Orte wie Wohnzimmer als Teil einer spartanischen Kulisse in einem übergroßen, hell ausgeleuchteten Raum errichtet sind und mit den inhaltlichen Schwenks ein surreales Bild abgeben, inklusive einer Freeze-Sequenz, in der Kleo zwischen verharrten Leuten umherläuft und einer Person mit dem Finger in der Kopfschusswunde herumstochert.
Ebenso grandios ist das Drehbuch, das knapp und auf den Punkt die Geschehnisse abbildet, ohne künstliche Längen, im Gegenteil, sogar mit cineastischen Verknappungen, etwa der Montage aus dem getippten Brief, den Kleo ja erst zu lesen bekommt, nachdem sie den Vorgang verrichtete, den man dazwischengeschnitten sieht, nämlich, wie sie im Regen das einbetonierte Grab ihres Opas aufstemmt. Oder die Szene mit dem Koffer in Chile, den man Kleo in Svens Arme werfen sieht, der aber auf dem Hotelbett landet, man also die mühselige Rückfahrt erspart bekommt. Das hier ist nicht Fernsehen für Dummies, wie man es ansonsten zuhauf vorgesetzt bekommt, hier verlangt man den Zuschauenden noch ab, dass sie dazu in der Lage sind, selbst Schlüsse zu ziehen.
Das nächste Pfund, mit dem die Serie wuchert, sind die skurrilen Figuren und die mit ihnen verbundenen Einfälle. Mag Sven zu Beginn noch der tapsige Tölpelpolizist sein, gewinnt seine selbstüberschätzende Masche nicht nur an Gagdichte, sondern seine Figur damit auch an Qualität, weil man ihn dabei begleitet, wie er sich in seine Arbeit hängt, mit Leib und Seele. Zudem reagiert er grandios auf die Realitäten, die sich ihm als Folge seiner Prahlerei aufdrängen. Er überzeugt mächtig. Ebenso Kleos Ex-Kollege Uwe, dem der von Quentin Tarantino gespielte Gecko-Bruder aus „From Dusk Till Dawn“ in allen Punkten ins Gesicht gezeichnet steht, vom markanten Kinn und der Fliegerbrille bis hin zum unberechenbaren Aggressionspotential. Und natürlich Kleo, die für den Erfolg ihrer Rache – wieder Tarantino: Der Vergleich mit Uma Thurman und „Kill Bill“ ist sicherlich beabsichtigt – in diverse Rollen schlüpft und auch sonst zwischen emotional verletzlich und tödlich schwankt. Sicher sind einige Figuren – oder eben die Leistungen ihrer Darsteller – etwas hölzern, aber das verschmerzt man gern, für das, was man trotzdem von ihnen bekommt, etwa von Thilo, dem Westberliner Technojünger, der Kleos Gefängnisaufenthalt nutzt, um sich in ihrer Wohnung einzunisten, mit einem Freund einen Club aufmachen will und eigentlich von Sirius B stammt. Ernsthaft. Sein Schicksal ist einer von vielen unerwarteten Hämmern in dieser Serie.
Und dann die Musik: Nicht nur der Einsatz von Dalbello, Jeannette und Laibach zeugt von einigem Fachwissen, auch die Ost-Songs von Silly, Feeling B, Gabi Rücker, Pankow, Klaus Renft oder City sind passend gewählt. Zudem ist mit Johnny Klimek nicht nur ein filmscoreerprobter Komponist am Werk – mit Reinhold Heil beschallte er beispielsweise viele Filme von Tom Tykwer –, sondern auch noch ein Ex-Bandmitglied von Nina Hagen, wenn auch nur live und erst 1996. Sein Score wiederum erinnert streckenweise an eine andere in den Achtzigern spielende Netflix-Serie: Nicht selten wähnt man sich bei „Stranger Things“.
Nicht zu vergessen die Schauspieler. Für jemanden, der zeitgenössische deutsche Film- und TV-Produktionen abseits von Andreas Dresens Filmen nicht kennt, sind dies sämtlichst fremde Menschen, bis auf Steffi Kühnert, die die Margot Honecker spielt, die kennt man nämlich von – Andreas Dresen: „Halbe Treppe“, „Wolke 9“, „Halt auf freier Strecke“, und außerdem auch aus „Herr Lehmann“. Der Rest: Chantal aus „Fack ju Göhte“? Nun! Hier wirkt Jella Haase kein bisschen cringe, so wandlungsfähig und selbstbehauptend, wie sie sich gibt. Wie sie wütend knurrt, wenn sich ihr jemand auf dem nächsten Racheschritt entgegenstellt, als ginge es um Kinderspiele, nicht um Leben und Tod. Und wie sie mit einem knappen „okay“ auf herausfordernde Ansagen reagiert, beinahe wie Saga Norén in „Die Brücke“. Der „Känguru“-Autor Marc-Uwe Kling, dargestellt von Dimitrij Schaad? Hier gibt er den Sven auf eine Art und Weise, die gleichzeitig emotional mitreißend und zum Fremdschämen ist, in Summe liebenswert; seine Performance ist derartig überzeugend, sie erinnert an Rocko Schamoni in „Fraktus“ oder Brad Pitt in „Burn After Reading“, denen man ihre tumben Figuren bedingungslos abnahm. Und wie grandios Sven sich aufregen kann: „Töten … tötet!“, stellt er fest, und setzt nach: „Menschen!“
Nicht nur das Erzähltempo ist rasant, auch die Action, die Gewaltexzesse sind rasant inszeniert, lediglich das Blut wirkt so künstlich, wie es ist. Die Spezialeffekte können sich sehen lassen, Zeitlupenbilder von fallenden Patronenhülsen, Explosionen, Schießereien, Autocrashs, Body Horror. Gleichzeitig lösen die Skriptautoren viele Konflikte eher unerwartet: Auch wenn sie etwa eher überflüssige Eifersuchtsthemen einbauen, quittiert Sven das Geständnis seiner Gattin, sie habe mit seinem Kollegen geschlafen, angenehm das Klischee verkürzend mit „Herzlichen Glückwunsch“ und wendet sich wieder seiner dringlichen Arbeit zu. Kein Beinbruch ist für Kleo, dass Thilo ihr Geld stahl: Sie merkt lediglich an, dass sie gerade ebenfalls etwas gebraucht habe, wird ansonsten aber nicht weiter böse auf ihn. Sie macht sich eben nichts aus Geld. Auch als sich ihre Mutter in einem selbstverteidigenden Monolog menschlich von ihr abwendet, sagt Kleo wieder nur „okay“ und geht. Humor, insbesondere situativer, ist ein weiteres überzeugendes Element dieser Serie. Viele Bestandteile erscheinen zunächst liebenswert, skurril oder einfach regulär gegeben, bis sie plötzlich absurde Lacher erzeugen, etwa die eine Schwangerschaft.
Aber das war’s ja auch noch nicht an guten Elementen. Gelungen ist, wie viele reale Faktoren zum Tragen kommen – das „Big Eden“ gab es wirklich, den an „Die Olsenbande“ oder an „Is‘ was, Doc?“ erinnernden Mielke-Koffer oder die an Feliks Dzierżyński orientierten Tschekisten, wie die Stasi-Killer hießen, sowie den Spitznamen „Lila Hexe“ für Margot Honecker ebenfalls, da lernt man beim Gucken dieser Serie etwas dazu. Man sollte sie indes dennoch nicht komplett beim Wort nehmen: Natürlich starb Erich Mielke auf eine andere Art, aber es ist ein Geschenk des Drehbuchs, dass es hier die Wahrheiten für die eigene Dramaturgie verbiegt. So verfuhr ja auch Tarantino in „Inglorious Basterds“ und „Once Upon A Time … In Hollywood“, und so märchenhaft, wie letzterer Titel es andeutet, darf man auch „Kleo“ auffassen, denn, nächster Kunstgriff, hat die Hauptfigur jederzeit alles, was sie braucht, zur Hand, etwa einen Fugu-Kugelfisch, Laborgeräte, ein Handtuch bei einer Freilandgeburt oder Waffen. Auch weiß sie vorher, welches Jackett ihr nächstes Opfer am Abend tragen würde. Oder: Wie kann eine Frau von 25 Jahren inklusive diverser Monate im Knast bereits nicht nur so gut ausgebildet sein, sondern auch noch so viel Killererfahrung haben – das muss man einfach hinnehmen, da gewinnt der Märchen-Faktor. Klug gesponnen ist überdies der Inhalt des roten Koffers, der einen Deal zwischen DDR und USA darstellt, weswegen das nicht tödliche Attentat der beinahe legendären Über-Tschekistin Ramona auf Ronald „Regen“ Reagan aus Stasi-Sicht auch nicht als gescheitert gilt.
Nun hat man also damit umzugehen, dass man mit Kleo eine Stasi-Killerin zur Heldin hat, also eine menschenverachtende Vertreterin eines ohnehin schon menschenverachtenden Systems. Einerseits fällt es leicht, weil man die Stasi-Vergangenheit lediglich als abstrakte Grundlage für Kleos Schlagkraft betrachten kann, irgendwoher müssen Superkräfte ja kommen, und warum nicht aus dem MfS-Kader, das erklärt es doch gut. Nur entpuppt sich Kleo zum Ende nicht als Gute: Zwar sind Sven und sie hinter den brisanten Dokumenten her, doch unterschiedlich motiviert, denn Sven möchte die Welt retten, Kleo nur sich selbst – und im Grunde ihre Ideologie. Die unterscheidet sich zwar von der ihres Opas, der sie einst ausbildete und dann in den Knast steckte, weil Kleo nämlich sogar noch linientreuer ist als er, der dem eigentlich verhassten Kapital zugeneigt war; als Kontrast dazu stellt Kleos Mutter eine dritte Position dar, die sich für eine bessere DDR einsetzen wollte, ebenfalls ohne den Kapitalismus, jedoch außerdem ohne den unterdrückenden Apparat im Hintergrund. Kleos Rache ist also tatsächlich persönlich motiviert und nicht als Abrechnung mit dem System zu verstehen. So richtig Superheldenverehrung findet in „Kleo“ wiederum trotz allem auch nicht statt: Schließlich übersah es das MfS, dass sich die Bevölkerung der DDR gegen das Regime stemmte und für einen friedlichen Niedergang des Staates sorgte. So allmächtig kann die Stasi also nicht gewesen sein, und das lassen die Serienmacher auch jemanden feststellen. Sven platzt angesichts Kleos Verbohrtheit ebenfalls der Kragen; es bleibt abzuwarten, wie sich Kleos ideologische Ausrichtung in der nächsten Staffel gestaltet. Mit diesem Schluss muss man sie leider vorerst als Arschloch auffassen.
Abgesehen von manchen hölzernen Darbietungen und diverser hingenommener Unlogik bleiben nur wenige wirklich negative Punkte übrig. Ganz besonders einer: Die Softpornoszene zum Schluss ist komplett überflüssig, diese Art der Nähe hätte anders dargestellt werden können, insbesondere, da Sexualität ansonsten erfreulicherweise keine besondere Rolle spielt. Obschon es rückblickend befremdlich ist, dass Sven Kleo in der Eröffnungsszene anbaggert, obwohl er verheiratet ist. Weiterhin kann man einiges an der Darstellung für anachronistisch halten, als ungefähr gleich alter Zeitzeuge erinnert man sich in Verhalten und Wortwahl nicht an das, was man hiergeboten bekommt; „fuck“ als Schimpfwort war 1990 noch nicht etabliert. Zuletzt ist nicht wirklich klar, worum es hier eigentlich geht: Bekommt man zuerst noch den Hinweis, dass Kleo im Knast saß, weil sie im Westen erkannt wurde, ist dieser Umstand anschließend nie wieder Thema. Auf der Suche nach den Gründen für ihre Inhaftierung landet Kleo vielmehr bei dem Koffer – der zwar während ihres Auftragsmordes bereits zugegen war, mit dem sie indes nicht in Berührung kam. Das bleibt also offen. Ebenso, warum Andi Ramona nicht kannte, schließlich war er doch leitender Offizier in der Stasi-Abteilung. Aber das sind Nebensächlichkeiten.
Insgesamt ist die Serie so gelungen, dass man sich dafür fürchtet, sie könne in eine zweite Runde gehen. Aber das wird sie, sagen die Showrunner Hanno Hackfort, Richard Kropf und Bob Konrad, kurz HaRiBo, sowie Elena Senft. Nachdem sich Viviane Andereggen und Jano Ben Chaabane den Regiestuhl für die erste Staffel aufteilten, sind es für Staffel zwei wohl Isabel Braak und Nina Vukovic. Hoffentlich machen sie ihre Arbeit gut. Ach, und: Lebt Uwe denn jetzt wirklich noch?! Wie lang lag der denn blutend und bewusstlos in seinem Auto? Oder ist er gar zum Zombie geworden – das würde angesichts Thilos Verbleibs niemanden wundern, oder?
Hihi. Die Szene, wie sie die Treppe hochlaufen und wissen, dass oben Gefahr droht, und trotz des Abkommens, niemanden mehr zu töten, zückt Kleo eine Waffe, und Sven hinter ihr reagiert komplett nonverbal, mit Gesten, die seinen Monolog umfänglich abbilden: Er erhebt erst die Hand und winkt dann ab. Großartig! Oder wie sie im Haus der BND-Agentin sind und Kleo sagt, sie müssen nach etwas mit dem Hinweis auf Chile suchen, und Kleo rennt die Treppe hoch. Sven stromert direkt vor der Kamera herum, greift ins Regal, zieht ein Buch mit der händischen Aufschrift „Chile“ heraus, blickt in die Kamera und sagt komplizenhaft: „Na, das war jetzt aber einfach!“ Oder wie …