Von Matthias Bosenick (23.08.2023)
So ein Winter in Finnland ist für uns Mitteleuropäer kaum zu imaginieren: Sind wir schon bei dezemberlichen Tageslichtzeiten von nur acht Stunden von Winterdepressionen bedroht, wie soll es einem dann weiter nördlich sein, womöglich jenseits des Polarkreises, wo sich die Sonne gar nicht über den Horizont wagt! Auf „Le jour ne se lève plus“ („Der Tag erhebt sich nicht mehr“) findet sich Julien J. Neuville unter seinem neuen Alias Kaamosmasennus („Jahreszeitliche Depresssion“) genau in diese Situation ein und vertont einen Winterspaziergang in Finnland, mit allem, was dazugehört, Schwermut und Lobpreisung, und zwar als variantenreich ausformulierten Funeral Doom Metal, wie passend. Vier Tracks in 40 Minuten, die wahrhaftig eine dunkle, winterliche, melancholische Atmosphäre verbreiten. Auf diesem Spaziergang begleitet man den Musiker mit deutlich mehr Bereitschaft als zu „Le voyage nocturne“, Neuvilles Drogentrip durch Mexiko, den er kürzlich als Salaman Isku wiederveröffentlichte: Beides zwar geile Alben, aber Kaamosmasennus klingt weniger schädlich für den Körper.
Spaziergänge scheint Neuville zu mögen, das ist löblich, und er ist offenbar gern in der Weltgeschichte unterwegs. Für sein auf Finnisch benanntes Funeral-Doom-Projekt Kaamosmasennus eben in Finnland, im Winter, in der Zeit ohne Sonne, mit viel Eis und Schnee, mit Dunkelheit, Frost, Einsamkeit, Entschleunigung, zugefrorenen Seen, nebelverhangenen Wäldern, Kraftaufwand für die Fortbewegung und Winterdepression. Von Alkohol oder anderen Substanzen ist dieses Mal keine Rede, auch das ist löblich, obschon man ihm für die Reise sicherlich eine Thermoskanne mit heißem Kaffee gewünscht hätte. Gemessenen Schrittes und niedergedrückt schleppt sich daher auch Neuvilles Metal voran, flächige E-Gitarren mit mal sich nur spärlich verändernder Tonhöhe und mal wunderschönen Melodien, langgezogene Growls, eingebettete Orgeln und Synthies, dynamische und wuchtige Drums sowie herunterziehende Bässe breiten Bilder und Gefühle von einer solchen Wanderung vor den äußeren Ohren und den inneren Augen der Konsumierenden aus.
Wahrlich: Es muss ungemein bedrückend sein, sich auf diese Reise zu begeben. Und doch belässt es Neuville nicht bei reiner Depression, er hat seine Achtsamkeitskurse verinnerlicht: Auch in Dunkelheit und Eiseskälte lässt sich Schönheit ausmachen, und dafür hat der Künstler sehr wohl offene Sinne. Daher ist seine Musik – ebenso wie die meisten Tracktitel („L’esprit de l’hiver“, „First Snow“, „La symphonie des éléments“) – nicht ausschließlich bedrückend und belastend, sondern bekommt lichte Momente, dezente Farbtupfer, aufhellende Akkorde und überhaupt eine ästhetische Struktur: Ja, auch diese Art von depressivem Metal kann schön sein. Besonders, wenn Neuville zum Ende das Keyboard allein sprechen lässt und den Sound und die Stimmung unerwartet auf den Kopf stellt, sich mithin vermutlich aus den Klauen der Schwermut befreit und von Ambient getragen den Rückweg nach Frankreich antritt. Da soll es ja auch ganz nett sein.
Wie schon „Le voyage nocturne“ spielte Neuville auch „Le jour ne se lève plus“ komplett allein ein. In beiden Fällen überzeugt das Zusammenspiel mit sich selbst, es gelingt ihm ausgezeichnet, allein eine ganze Band zu sein. Etwas gewöhnungsbedürftig sind die millisekundenlangen Brüche beim Umgreifen einiger Akkorde, mit denen er die atmosphärischen Flächen unterbricht; das wirkt zunächst amateurhaft, stellt sich aber alsbald vielmehr als Moment der Erleuchtung dar, als Wecksekunde, die die Aufmerksamkeit der in Trance versetzten Hörenden bindet.
Entstanden ist die Musik bereits zwischen 2018 und 2022. Weil Neuville musikalisch auf vielen Hochzeiten zu tanzen vermag, lässt sich „Le jour ne se lève plus“ nicht allein im Funeral Doom einsortieren: Man macht auch Death und Black Metal aus, mit Gothic Metal, ebenso hat der Musiker eine Vorliebe für alles Progressive an der Rockmusik. Kein Wunder, in all diesen Genres ist Neuville alias Adunakhor Z. bekanntlich mit einer Vielzahl an Bands und Projekten zuhause. Überdies sei darauf hingewiesen, dass es bereits eine Band mit dem Namen Kaamosmasennus gibt: Samuli Peurala (unter anderem von den Hardcore-Bands Lighthouse Project und ILLS) und Milla Helminen machen winterdepressiven Synthpop.