Von Guido Dörheide (23.09.2025)
Was erlauben Johnny Marr eigentlich neuerdings? Seit dem Beginn seiner Solokarriere im Jahr 2013 hat der Manchesteraner (jahaa – ich weiß – Mancunian) drei tolle Alben und eine (ebenfalls wundervolle) EP-Gemengelage mit dem Namen „Fever Dreams Pt. 1 – 4“ veröffentlicht, und mit „Look Out Live!“ erscheint nun schon das zweite Live-Album nach dem 2015er „Adrenalin Baby“. Fällt dem Herrn keine neue Musik mehr ein?
Als ein erklärter Befürworter des Johnny Marr bin ich beruhigt, Stolz in die Worte legen zu können, dass dieses zweite Live-Album innert zehn Jahren nicht nur seine Berechtigung in der Musikgeschichte, wenn nicht sogar in der Geschichte Johnny Marrs, hat, sondern auch großartig klingt und die Trackliste des Vorgängers nicht etwa kopiert, sondern ergänzt: Wie schon auf „Adrenalin Baby“ entblödet Marr sich nicht, Songs der tragisch geendeten besten Band der 80er Jahre, wenn nicht sogar aller Zeiten, also der Smiths, zu spielen, nur sind es dieses Mal nicht nur vier, sondern deren ganze acht, nämlich „Panic“, „This Charming Man“, „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“, „How Soon Is Now“, „You Just Haven’t Earned It Yet, Baby“, „There’s A Light That Never Goes Out“, „Stop Me If You Think You’ve Heard This One Before“ und „Bigmouth Strikes Again“. Ich wollte schon immer mal mehrere Zeilen nur mit der Nennung von Smiths-Songs füllen! „Bigmouth“, „There’s A Light“ und „How Soon“ waren schon auf „Adrenalin Baby“ vertreten, könnte man jetzt anmeckern – aber what shall’s, wie man in Marrs Heimatland zu sagen pflegt? Es sind dies drei der besten Smiths-Songs überhaupt („How Soon“ ist sogar soo speziell, dass man sich anhand der seinerzeit 1984 aufgefahrenen Gitarrensoundwände fragen muss, ob das wirklich nur ein einziger Gitarrist ist, der da aufspielt, wodurch Johnny Marr gewissermaßen den Edward van Halen des Indie-Pop markiert, später wurde das Stück dann in der Version von Love Spit Love, der damaligen Band des Psychedelic-Furs-Chefs Richard Butler, nochmal ein Hit, indem es prominent in der Fernsehserie „Charmed“ platziert wurde. Eine gute Serie mit sehr guter Musik. Zum Beispiel mit „How Soon Is Now?“ von den Smiths in der Version von Love Spit Love. der Band von Richard Butler, der mit den Psychedelic Furs unter anderem „Pretty In Pink“ zu verantworten hatte, das sehr großartig, aber bei weitem nicht das großartigste Stück der Psychedelic Furs war. Aber ich schicke mich an, von ursprünglich gewählten Thema abzuweichen, also zurück zu den Smiths, zurück zu Morrissey und zurück zu Johnny Marr. Sagte ich Morrissey? Den hatte ich bisher, glaube ich, noch gar nicht erwähnt, also tue ich es jetzt: Damals bei den Smiths hat Morrissey sämtliche Texte und Marr sämtliche Musik geschrieben. Trotzdem halte ich insgeheim die Smiths-Songs für Morrissey-Songs, und ich weiß nicht so recht, wieso. Eventuell, weil jammerig-lebensverneinende oder manchmal auch einfach nur grotesk-originelle Zeilen wie „I smoke ‘cause I’m hoping for an early death“, „Heaven knows I’m miserable now“ (was in dem Film „The Commitments“ großartig mit „He knows you are.“ kommentiert wurde), „And if a ten ton truck kills the both of us“, „Some girls’ mothers are bigger than other girls’ mothers“ oder „Hang the blessed DJ, because the music they constantly play says nothing to me about my life“ während meiner Kindheit und Jugend so sehr präsent gewesen sind und weil das natürlich Morrisseys Zeilen sind. Und wären sie nicht gut, hätten sie es nicht vermocht, bis heute in meinem Kopf herumzuspuken. Aber Morrisseys Texte wären ohne Johnny Marrs Musik nicht annähernd so gut gewesen, wie Morrisseys Solo-Werk beweist: Seine Soloalben sind gut, manchmal sogar genial, aber an die Smiths reichen sie nicht heran, weil Marrs Musik fehlt.
Somit ist es also keineswegs Blasphemie, wenn Marr jetzt beigeht und Weltwerke wie „Bigmouth“ einfach mal selber singt. Er hat weder die Stimme noch die jammervoll-vulnerable Ausstrahlung eines Morrissey, aber er macht es gesanglich wirklich richtig gut, unaufgeregt und den Songs angemessen, und vor allem: Er spielt die Gitarre dazu, und ohne diese wären die Songs auch alles Nichts. Hier also acht an der Zahl anstelle von vier, und das wirkt nicht so, als ob Marr nichts Eigenes einfiele, sondern eher, als ob er sich jetzt nichts scheißen würde, die Fans auch mal reichlich mit dem zu bedienen, was sie natürlich neben Marrs Eigenkompositionen live hören wollen und was ihm ja auch einfach mal zusteht. Und die hier enthaltene Version von „How Soon Is Now“ ist nicht nur musik-, sondern auch gesangsmäßig absolut topp. Mein Lieblingssmithssong auf „Look Out Live!“ ist aber „Please, Please, Please…“. Ein so abgeschmacktes Gejammer von einem Text hat es wohl vorher und nachher niemals wieder gegeben, mit diesem Teil hat es Morrissey geschafft, selbst Hank Williams als frohgemuten Verfechter des positiven Denkens dastehen zu lassen. Einmal, einmal nur, wirklich nur einmal, lass mich doch bitte kriegen, was ich will! Das Leben, das ich führte, würde aus einem guten Mann einen Bösen machen, so bitte, bitte, biiiiitteeee Papa!, lass mich doch nun einmal kriegen, was ich will. Der Herr weiß, es wäre das erste Mal.
Wääh?? Diese Worte eines Nicht-Mal-Dreißigjährigen muss man sich nicht mal auf der Zunge zergehen lassen, um sie auch nur annähernd nicht für voll nehmen zu können (selbst als 14Jähriger dachte ich, „das ist jetzt aber dolle dick aufgetragen“, obwohl man als 14- bis 17-Jährige:r ja eigentlich für jedwede Darreichungsform des Selbstmitleids mehr als empfänglich ist, zumindest ging es mir damals so), und umso großartiger ist es jetzt, diese lauwarmen, nicht von ihm selbst geschriebenen Worte von einem knapp über 60Jährigen zu hören, der weiß, wo der Werther den Most holt. Und er macht das so gut, dass ich bei „This Charming Man“ Morrissey nicht einmal vermisst habe. Bei einer Gesamtsonganzahl von 22 Stücken auf acht Smiths-Songs zurückzugreifen, halte ich auch nicht für übertrieben, sondern für: Genauuu richtig (um einmal Goldlöckchen und die drei Bären zu zitieren, okay, die drei Bären eigentlich nicht, aber zumindest Goldlöckchen).
Und das ist ja auch nicht alles, was Marr hier präsentiert: Vor seiner 2013 gestarteten Solokarriere war er unter anderem Mitglied von Electronic, einer Band, die er Ende der 80er zusammen mit Bernard Sumner von New Order gegründet hat und die in den 90er Jahren drei schöne Alben herausgebracht hat. Aus denen Marr hier „Getting Away With It“ zum Besten gibt – unterstützt von Neil Tennant von den Pet Shop Boys (der „Getting Away With It“ auch zusammen mit Sumner mitgeschrieben hat)! Dieser singt auch auf Marrs David-Bowie-Coverversion „Rebel Rebel“ mit und revanchiert sich damit für langjährige Gitarrenarbeit Marrs auf diversen Pet-Shop-Boys-Alben (Ein Wort des Dankes an den Herausgeber für diese Info!).
Neben „Rebel Rebel“ enthält das Album eine weitere Coverversion, nämlich „The Passenger“ von Iggy Pop. Ein abgenudeltes Stück der 70er-Jahre, dem eigentlich durch die Coverversion von Siouxsie And The Banshees in ausreichendem Maße Genüge getan worden sein sollte – aber Wurscht, Marr und seine Band (Lob und Anerkennung gebührt dem Bassisten Iwan Gronow, der für authentische Iggy-Pop-von-damals-Vibes sorgt) feiern den Song und machen eine Fesitivtät draus.
Der Rest des Albums besteht aus Marr-Solo-Eigenkompositionen, und diese sind richtig klasse. Bereits 2013 auf „The Messenger“ (not to be confused mit dem eben abgekündigten „The Passenger“) wusste Marr mit unaufgeregt-melancholischen Songs wie „New Town Velocity“ zu begeistern, bei denen Marrs im Gegensatz zu Morrissey unscheinbarer und unpathetischer Gesang und sein unglaubliches Talent an der Gitarre eine Symbiose eingehen, die unheimlich gut funktioniert. „Sensory Street“ von Marrs 2021/22er Werk „Fever Dreams“ wartet mit einem elektronischem Intro auf, das hier als Intro zum Album nochmal um einiges aufgeblasen wird und das sich bei einem ausgewiesenen Handgemachte-Gitarre-Zeug-Artisten wie Marr als gut funktionierendes Gimmick erweist – zumal Marr im Verlauf des Stücks richtig rockende Gitarrensoli aufbietet – dann geht es mit dem hektischen „Generate! Generate!“ wieder zurück zu „The Messenger“ und Marr generiert ein authentisches Gefühl von Johnny-Marr-Solo-Musik, das mit „Spirit Power And Soul“, wieder einmal mehr von „Fever Dreams“, wieder einmal mehr mit einem seehr elektronischen Intro aufwartet und den Hörenden vor Augen hält, dass Marr solo einen eigenen Sound geschaffen hat, der einen abholt, nach Hause bringt und zeigt, dass wir es hier mit einem absoluten Ausnahmekünstler zu tun haben, der bei den Smiths den Grundstein zu seinem Kultstatus gelegt hat und der es versteht, diesen immer weiter auszubauen und in die Jetztzeit hineinzutragen. Ob nun „Walk Into The Sea“ (vom 2018er Album „Call The Comet“) oder „Easy Money“ („Playland“, 2014), Johnny Marr hat auf jedem seiner Soloalben grandiose Songs veröffentlicht, die hier nun in ebenso grandiosen Live-Versionen enthalten sind, darüber hinaus finden sich hier die exklusiv als Single und auf der 2023er Best-Of „Spirit Power“ erschienenen Stücke „Armatopia“, „The Answer“ und „Somewhere“ in klasse Live-Versionen. Und hammermäßige Songs sind das auch.
Alors, j’en ai marre? No, nay never! No nay never jamais! Soll er ruhig weitermachen, Johnny Marr hat bislang nichts Schlechtes veröffentlicht und anscheinend wird er besser und besser (siehe „Armatopia“, „The Answer“ und „Somewhere“).
Nachsatz: Als ich oben über „Please, Please, Please“ im Zusammenhang mit Morrisseys damals Nicht-mal-Dreißigjährigkeit lästerte, wollte ich nicht sagen, dass ich es Unter-Dreißigjährigen abspreche, traurige Gefühle und düstere Stimmungen zu empfinden. Das ist keine Frage des Alters und schlimme Erlebnisse in Worte fassen zu können ist eine großartige Gabe, in jedem Alter, und auch eine hilfreiche Art und Weise, mit Schmerz und Traurigkeit umzugehen.