Von Matthias Bosenick (18.10.2024)
Warum sollte man sich ein Ticket für einen Film lösen, in dem die Nazis gewinnen? Nicht nur angesichts gegenwärtiger Wahlergebnisse ist das keine attraktive Aussicht. Aber „In Liebe, Eure Hilde“ ist von Andreas Dresen, das ist ein Argument dafür. Und Dresen löst jede Erwartung ein – im Guten wie im Schlechten: Seine Bildsprache und seine Erzählweise sind rein filmisch betrachtet mehr als sehenswert – und die Geschichte ist in ihrem Ausgang absolut unerträglich und erschütternd. Man begleitet die in der gesamtdeutschen Historie aus dem Blickfeld verschwundene kommunistische Widerstandskämpferin Hilde Coppi parabelartig vorwärts in ihre Exekution und rückwärts in ihre Rolle als Geliebte und antifaschistische Verschwörerin. Und Dresen hält erbarmungslos drauf.
Dabei beginnt der Film so harmlos: Die schwangere Hilde erntet Erdbeeren und wird von freundlich, aber bestimmt auftretenden Männern mit Autos abgeholt und rücksichtsvoll dazu aufgefordert, auch warme Kleidung mitzunehmen, was ja schon in Aussicht stellt, dass der Mitnahme eine durchaus längere Abwesenheit von Zuhause folgen dürfte. Sie wird ob ihrer Aktivitäten im Verbund mit russischen Spionen verhört, ein gefolterter, blutender Häftling wird ihr als Druckmittel vorgeführt, sie wird in ein Gefängnis übergeben. Die Farben sind grau, dunkel, gedeckt, bedrückend. Und plötzlich taghell, farbenfroh: Hilde und einige andere junge Leute sitzen gutgelaunt am Strand eines Sees, als eine andere junge Frau herangeprescht kommt und erzählt, dass ihr Mann verschwunden und womöglich inhaftiert worden ist. Die Gruppe ist aufgebracht, weil die jungen Menschen Verfolgung wittern, und stiebt auseinander.
Diesen Kontrast behält der Film bei, den Wechsel zwischen linear voranschreitender Zeit im Gefängnis als Mutter sowie rückwärts die vorangehenden Ereignisse nacherzählender Sequenzen rund um Liebe, Widerstand, Aktionismus, Verschwörung und der unterschwelligen Angst, aufzufliegen. Wie berechtigt die ist, ist bekannt, und wie fatal das Auffliegen landesverräterischer Aktivitäten im faschistischen Deutschland der frühen Vierziger wird, bekommt man hier als Zuschauender vorgesetzt, mit voller Wucht.
Wobei sich diese Wucht erst allmählich aufbaut. Eine permanente unterschwellige Bedrohung, eine Beklemmung liegt den Geschehnissen zugrunde, schließlich hat man es mit gewissenlosen, rücksichtslosen, skrupellosen und unberechenbaren Arschlochnazis zu tun, die ihr Tun nicht hinterfragen, sondern ihre Befehle einfach ausführen oder gar erteilen. Hilde kommt ins Gefängniskrankenhaus, um dort ihren Sohn, den sie nach dem Vater Hans benennt, der ebenfalls in dem Gefängnis einsitzt, wie der Rest der Verschwörergruppe, auf diese verdammte kackbraune Welt zu bringen. Dort begegnet sie Nazischergen in Form von Ärzten oder Krankenschwestern, die ihr mit leichter bis unverhohlener Ablehnung, Abscheu und Arroganz begegnen, sowie Mitgefangenen, die ebenfalls Mütter geworden sind. Als Zahnarzthelferin und als empathische Trösterin der Leidensgenossinnen strahlt sie eine nüchterne Stärke aus, der die uniformierten Erfüllungsgehilfinnen alsbald mit einigem Respekt zu begegnen scheinen, was deren Mittäterschaft noch weniger nachvollziehbar macht. Obschon sich Hilde in einer trügerisch sicheren Szenerie bewegt, ist ihr Schicksal unausweichlich.
Da man die Vorgeschichte rückwärts erfährt, erlebt man die Aktivistin- und Mutterwerdung Hildes quasi verdreht. Die Katastrophe ebbt sozusagen ab, alles wird unschuldiger, bekommt den Anschein von juvenilem Abenteuer. Auch über die Liebesgeschichte von Hilde und Hans erfährt man mehr: Beide sind eigentlich vergeben, Hilde an den jüdischen Franz, der indes längst das Land verließ, während seine Mutter ihr Hab und Gut bei Hildes Mutter versteckt. Im Zuge gemeinsamer Aktionen vertieft sich die Zuneigung der beiden Dissidenten bis zurück zum Kennenlernen auf einer Hochzeitsfeier.
Freundliche, sympathische, engagierte junge Menschen, die in Freiheit leben wollen, die dafür in Kauf nehmen, dabei entdeckt zu werden, wie sie illegalen Kontakt zu Funkern in Russland aufnehmen, und die dafür zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Die Kamera bleibt in ihren letzten Momenten elend und quälend lang auf Hilde gerichtet, man kann ihr nicht ausweichen, ihrer Ausweglosigkeit und wie sie dieser beinahe erschütternd stoisch begegnet. Zack, Rübe ab und Schnitt zur Hochzeitsparty. Bamm. Bis dahin hat man schon einiges an Salzwasser am Kinn. Wie Hilde ihrer Mutter im Gefängnis verrät, dass sie hingerichtet werden soll. Was für eine unvorstellbar katastrophale Situation für die Mutter, deren Reaktion man auszuhalten gezwungen ist. Wie Hilde ihrem Baby Hans zum Abschied ein besseres Leben wünscht und dass er sie nicht vergessen möge. Ihren Schrei nach dem Schließen der Zellentür schreit man innerlich lauthals mit. Wie Hilde damit umgehen muss, dass ihr Mann Hans bereits von den Nazis umgebracht wurde. Wie sie in der Schlange zum Schafott steht und ein letztes Mal in die Sonne guckt. Alter, Dresen!
Dafür nimmt man den etwas mühsamen Anfang in Kauf. Sexszenen, Nacktszenen von Hilde-Darstellerin Liv Lisa Fries überhaupt, die die Figur andererseits offenbar authentisch als Mischung aus innerem Terminator und äußerlichem Mauerblümchen darstellt, oder auch als „Gouvernante“, wie die jungen Männer über sie sagen. Die Geburtsszene ist etwas gedehnt, wenn auch die Wucht der Emotionen nachfühlbar ist: Ein Kind zu bekommen ist euphorisierend, im Naziknast aber Scheiße. Auch in Kauf nimmt man den Umstand, dass man den historischen Kontext teilweise recherchieren muss, nämlich die Geschichte der Roten Kapelle, wie der funkende kommunistische Widerstand gegen das Naziregime von der Gestapo genannt wurde, indes eben nicht im Film. Der funktioniert auch so, schließlich ist der erforderliche Widerstand gegen Nazis allgemeingültig und „In Liebe, Eure Hilde“ keine reine Geschichtsdokumentation. Auch recherchieren muss man, warum Franz‘ Mutter Hilde fortwährend mit Betti anspricht: Hilde Coppi hieß gebürtig Betti Gertrud Käthe Hilda Rake.
Marginalien angesichts eines solch großartig inszenierten und nachhaltig belastenden Films. Der seine unangenehme Wucht überdies zwar aus der unberechenbaren Bedrohung, aber nicht aus der Darstellung von Gewalt zieht: Lediglich den blutenden Mithäftling sieht man einmal, aber nicht, wie es zur Blutung kommt, und auch gegen Hilde wird nie die Hand oder sonst etwas erhoben – bis auf die Guillotine am Schluss. Dresen generiert die bedrückende Atmosphäre auf rein psychischer Ebene und verleiht ihr umso mehr Schwere, indem er die scheinbar unbeschwerte sonnendurchflutete vorhergehende Zeit dagegenschneidet. Die inhaltlich an sich nur bedingt Erhellendes mitbringt, aber die Figuren vertieft und eben der effektive Gegenentwurf ist zu dem Scheißleben, das man unter Nazis zu führen gezwungen ist.
Worauf Dresen ebenfalls verzichtet, ist Musik, was die Unmittelbarkeit nur verstärkt. Der farbliche Kontrast zwischen den Erzählebenen ist nicht der einzige visuelle Kniff des Films: Die Bilder sind Kompositionen, die Figuren nicht plump frontal in der Mitte gefilmt, die Ausweglosigkeit steht als unsichtbares Objekt im Raum. Abermals greift Dresen hier zudem wiederholt auf vertraute Mitwirkende zurück: Kamerafrau Judith Kaufmann und Drehbuchautorin Laila Stieler sind wieder involviert, Alexander Scheer und Steffi Kühnert nehmen wichtige Rollen ein. Und der in Gera geborene Dresen befasst sich einmal mehr mit einem Thema, das in der DDR relevanter war als in der Bundesrepublik, in der die Rote Kapelle ihrer kommunistischen Haltung wegen eher mit Argusaugen betrachtet wurde.
Das Schlusswort nimmt Ex-SED-Funktionär Hans Coppi ein, der Sohn von Hilde, dessen erste Monate im Film zu verfolgen waren: Er spricht sich für den Widerstand gegen Nazis aus und berichtet, dass seine Recherchen ergaben, dass die Russen von der Gruppe um Hilde lediglich einen einzigen Funkspruch empfangen konnten, einen harmlosen Gruß zudem, schlichtweg, weil die Reichweite der Amateuranlagen nicht groß genug war. Was den sinnlosen Mord der Nazis an der gesamten Gruppe noch sinnloser macht.