Von Matthias Bosenick (13.11.2016) / Auch erschienen auf Kult-Tour Der Stadtblog
Wenn ein Regisseur es schafft, mit seiner Geschichte die Zuschauer so sehr zu berühren, dass sie wahlweise in Tränen ausbrechen oder stinkwütend werden, muss er eine besondere Gabe des Erzählens haben. Ken Loach ist so einer, ein seltener Glücksfall. Mit „Ich, Daniel Blake“ macht er sich einmal mehr zum Sprecher der kleinen Leute, indem er dieses Mal das britische Sozialsystem als Grundlage nimmt, das im Wortsinne die Leute umbringt. Das ist Europa. Leider. Ein hochgradig berührender Film.
Nach einem Herzanfall stufen Daniels Ärzte ihn als arbeitsuntauglich ein, der Staat hingegen nicht. Fortan führt er einen Kampf mit den Behörden, indem er versucht, wahlweise Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe zu beantragen und sich dabei menschenverachtenden Anforderungen ausgesetzt sieht. Das allein wäre noch kein guter Film, sondern eher eine Dokufiction. Deshalb gibt es typisch Loach’sche Sozialbegegnungen drumherum. Daniels Nachbar etwa ist ein schwarzer Jugendlicher, der einerseits mit illegalen Sportschuhen dealt, andererseits Daniel beim Ausfüllen von Onlineformularen hilft. Diese Ambivalenz zwischen guten und schlechten Eigenschaften tragen viele von Loachs Figuren.
Die Hauptrandgeschichte dreht sich um die aus London nach Nordengland gezogene alleinerziehende Mutter Katie, um die sich Daniel väterlich kümmert. Auch sie ist Opfer des Systems und greift aus Verzweiflung sogar zum Geldbeschaffungsmittel Prostitution. Gemeinsam schlagen sich Daniel und Katie durch die unwürdigen Anforderungen der Gesellschaft. Im zentralen Moment des Films bricht Katie entkräftet und verzweifelt bei der Tafel zusammen. Daniel und sie haben neben dem schieren würdevollen Überleben das gemeinsame Ziel, seinen Widerspruch gegen den Entscheid, arbeitsfähig zu sein, zur neuerlichen Bewertung vor ein Gremium zu bringen.
Das System ist also der Feind. Und dieses System zeigt Loach in aberwitzigen Absurditäten, die man für konstruiert halten will, von denen man aber schockiert annehmen muss, dass sie authentisch sind. Die Vertreter des Systems agieren starr und haben keine Möglichkeit, von den Vorschriften abzuweichen, auch wenn diese gegen die Logik verstoßen. Das Regularium dazu wird, so ist es überall in Europa, von Menschen ersonnen, die es weder anwenden noch darunter leben müssen.
Bis zum Gremiumstermin erleiden Daniel und Katie zahlreiche demütigende Situationen. Doch überall, das gehört zum Stil Loachs, gibt es eine Solidarität unter den Kleinen. Selbst in den schlimmsten Gelegenheiten kommt unerwartete Hilfe von Supermarktleitern, Beamten, Ehrenamtlichen, Mitbürgern. Je länger der Film andauert, desto mehr ist man von diesen hoffnungspendenden und auch humorvollen Momenten gerührt. Diese Solidarität wünscht man sich in seiner eigenen Umgebung auch, doch sieht man sich real vielmehr den Ellenbogen seiner Mitmenschen ausgesetzt. Das lässt Loachs Filme zwar oft märchenhaft erscheinen, aber das ist legitim, das tut der Seele gut. Mehr Hoffnung gesteht Loach seiner Hauptfigur Daniel nämlich nicht zu. Umso konsequenter sind die heftigen Gefühle, die man aus dem Film mitnimmt. Er lässt einen nicht los. So ist es hier zu Hause auch längst, denkt man.
Eines sind Loachs Sozialdramen nicht: optisch ansprechend. „Ich, Daniel Blake“ ist blass, unschön. Zum Hyperrealistischen trägt bei, dass es so gut wie gar keine Musik zu hören gibt; man fühlt sich noch näher am Geschehen, nicht wie in einem Film. 80 Jahre alt ist Ken Loach jetzt. Möge er der geschundenen Welt noch lang als Vetogeber erhalten bleiben.