Von Matthias Bosenick (30.09.2012)
Einen Film wie „Holy Motors“ hat es vermutlich wirklich noch nie gegeben: Er ist kein Film mit einer stringenten Geschichte; dafür mit einem Dutzend Geschichten, die in sich schlüssig sind, aber in keinem Zusammenhang zueinander stehen, bis auf den, den Carax erfand, um aus seinen kleinen Skizzen einen Gesamt-Film zu machen: Er lässt einen Mann, M. Oscar (Denis Lavant), in einer Stretchlimo durch Paris fahren, sich verkleiden und als jeweils anderer Charakter die verschiedenen Geschichten erleben. Im Verlauf trifft M. Oscar überraschend auf andere Realitäten-Darstellende; die im Film tatsächliche Realität ist jedoch nicht so einfach zu entschlüsseln, und wenn man Anfang und Ende betrachtet, erscheint „Holy Motors“ gar wie eine Abrechnung mit dem zeitgenössischen Kino. Die Geschichten sind dabei mindestens nachdenklich, manchmal (optische) Fingerübungen, stets dunkel und so gut wie nie positiv. So ist „Holy Motors“ zwar absolut sehenswert, aber einmal reicht wahrscheinlich.
Die Fragen, die „Holy Motors“ aufwirft, sind rein interpretatorischer Natur und nicht die nach der internen Logik. Die ist aus der Natur der Struktur heraus gar nicht vorausgesetzt, man ist daher zum philosophieren gezwungen. Anfang und Ende erscheinen wie eine Filmkritik: Anfangs erwacht ein Mann in einem Raum oberhalb eines Kinosaals. Man hört, dass das Publikum eine Hafenszenerie sieht. Um den Raum zu verlassen, muss der Mann eine mit einem Wald bedruckte Wand durchbrechen. Das sieht nach David Lynch aus. Er blickt auf die Leinwand, und erst dann geht der Film los.
Darin beginnt ein offenbar wichtiger Mensch, M. Oscar, seinen Arbeitstag. Verfolgt von motorisierten und umringt von bewaffneten Leibwächtern verlässt er seine Familie, steigt in eine Stretchlimo und telefoniert über ein wirtschaftlich anmutendes Thema. Bis dahin wirkt M. Oscar wie ein Steuerer, verliert diese Position aber sofort. Die Fahrerin teilt ihm mit, dass sein erster Termin auf ihn wartet, und er – verkleidet sich ohne Erklärung in der wie eine Theatergarderobe ausgestatteten Limousine als alte Frau, die verfolgt von Leibwächtern auf der Straße bettelt. Danach übt er, inzwischen komplett befreit von Leibwächtern, in einem schwarzen Kampfanzug mit Lampen dran eine Kampfsportart und hat Cybersex mit einer rotgewandeten Kombattantin. Danach stolpert er als Gnom durch Paris, stört eine Lifestylefotosession, beißt der Fotoassistentin Finger ab, entführt das Model in die Kanalisation, fertigt aus ihrem Nichts von einem Kleid eine Burka und legt sich mit erigiertem Penis neben sie. Danach ist M. Oscar der Vater einer Teenagerin mit mangelndem Selbstwertgefühl, ein Auftragskiller, der einen Mann, der aussieht wie er, umbringt, ein Akkordeonspieler einer Balkanband in einer Kirche, ein sterbender Mann in einem Hotel und vieles mehr. Stets sind die Figuren unberechenbar, mein weiß vorher nie, welchen Charakter sie haben oder wie blutig es wird. Für nichts gibt es eine Erklärung, nicht einmal für die Aufträge oder über die Auftraggeber.
Zumindest sickern die Auftraggeber gelegentlich durch: Einmal fragt ihn die Fahrerin, ob sie die Gesellschaft über eine Zeitverzögerung informieren soll, und einmal fragt ihn ein Vorgesetzter, ob er seinen Job noch mag. Außerdem brechen im Verlaufe der Sequenzen die Rollen auf: Die Nichte des Sterbenden entpuppt sich ebenfalls als Rollenspielerin, einmal scheint M. Oscar in einem der Aufträge eher einem Impuls zu folgen als der Auftragsmappe, als er nämlich einen Bänker erschießt und von dessen Leibwächtern niedergestreckt wird, während er „Auf die Genitalien zielen“ ruft, und einmal trifft er in einem verlassenen Jugendstilkaufhaus auf eine frühere Geliebte, die sich danach vom Dach des Hauses stürzt und im Gegensatz zu ihm nach diversen Verblutungen tatsächlich tot ist.
An sich müsste diese Sequenz die einzige sein, in der M. Oscar er selbst ist. Das lässt jedoch an der ersten Sequenz zweifeln, in der er in den Arbeitstag startet, obwohl sie nicht als Auftrag deklariert ist. Der letzte Auftrag indes führt M. Oscar in eine Fertighaussiedlung, wo er mit zwei Schimpansen zusammenlebt. Die Fahrerin verlässt ihn und sagt „Bis morgen“, was impliziert, dass dieses Leben sein echtes sein muss. Rätsel über Rätsel. Am Ende schlägt Carax die Brücke zum Anfang: Die Frau fährt die Limousine in eine Garage mit dem Filmtitel als Namen. Dort unterhalten sich die Autos über ihren Tag und stellen klagend fest: „Die Leute wollen keine Handlung mehr.“ Vermutlich ist das der Grund, weshalb Carax so viele Handlungen in seinem Film unterbringt.
Filmisch indes ist „Holy Motors“ keine solche Großtat. Carax‘ Kameramann verlässt sich auf die banale Totale, was den Film etwas statisch wirken lässt. Ein großes Maß an Realitätsnähe sickert dadurch in den Film ein, dass Carax auf Musik weitgehend verzichtet und die Geräusche in den Sequenzen so dicht wie im echten Leben rekonstruiert. „Holy Motors“ ist also eher inhaltlich als optisch eine Besonderheit.
Am nachhaltigsten und die Grundhaltung mit den Rollen, die jeder im Leben spielt, ist übrigens die Sequenz, in der M. Oscar einen Vater spielt. Er stellt die heranwachsende Tochter zur Rede, was auf der Party passiert sei, von der er sie gerade abholte. Mit Jungen getanzt habe sie. Und die Freundin werde separat abgeholt. Klingt wie die übliche Sache mit dem eifersüchtigen Vater, der seine Tochter nicht loslassen kann. Doch dann ruft diese Freundin den Vater an und er erfährt, dass seine Tochter ihn anlog: Sie war in Wahrheit die ganze zeit über im Badezimmer eingeschlossen, die Freundin hat mit den Jungs getanzt. Der Vater wird sauer, weil aus ihr so nie etwas werde. Sie fragt: „Werde ich jetzt bestraft?“ Und er sagt: „Ja. Die Strafe ist wie folgt: Du hast du selbst zu sein und damit klarzukommen.“